Die smarte Diktatur

Normalerweise diskutieren wir nicht über ökologische Fragen, wenn wir über Digitalisierung sprechen,

so Harald Welzer zu Beginn seines neuen Buches mit dem reißerischen Titel Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit.

Harald Welzer hat ein Feindbild.

Teil dieses Bildes sind: "dumpfbeutelige" Shitstormer, emsige Selflogger, hautberufliche Datensammler und bereitwillige Datenlieferanten, staatliche und private Überwachungsmaschinerien, Smartphone-User, Hyperkonsumenten und Billig-Produzenten, Selbstoptimierungs-Wahnis und Filter-Bubble-Insassen. Also: du und ich.

Darüber hinaus noch namentlich benannte "Arschlöcher" oder - je nach Perspektive - "Helden" der New Economy wie Oliver Samwer (Zalando), Jeff Bezos (Amazon) oder Peter Thiel (einst Paypal, jetzt Trump?). Und Startups der Sharing Economy, deren Geschäftserfolg letztlich in der Monetarisierung einstmals sozialer Praktiken begründet ist. Soziale Praktiken, für die auch wir mittlerweile gern Geld zahlen, weil sich das alles so frei und subversiv und cool anfühlt.

Dass Welzer dem Leser selbst permanent dessen Lebensweise vor die Füße kotzt, macht die Schlagfertigkeit dieses Buches aus. Und zeigt die Dringlichkeit.

Denn Harald Welzer hat ein Problem:

Wir haben uns angewöhnt, Klimawandel, soziale Ungleichheit, Finanzmarktkrise, Flüchtlinge, Artensterben, Digitalisierung, Globalisierung, Hyperkonsum, Wirtschaftswachstum, Mobilität, Kriege, Überwachung, Terrorismus als voneinander säuberlich getrennte Erscheinungen zu betrachten, als seien sie auch in der Wirklichkeit voneinander getrennt. Das sind sie aber nicht: Die wachsenden Emissionsmengen, die den Klimawandel anfeuern, haben ihre Ursache in Konsum und Hyperkonsum, die dafür erforderlichen Material- und Energiemengen müssen, wegen des "globalen Wettbewerbs", so billig wie möglich gewonnen werden, weshalb Raubbau an Naturressourcen wie an menschlicher Arbeitskraft betrieben wird, was zu sozialer Ungleichheit und auch zu Konfliken und Kriegen und Terrorismus führt, weshalb expansive Überwachungsstrategien verfolgt werden, die durch einen privatwirtschaftlich-staatlichen Komplex der Kontrolle von Staatsbürgerinnen und -bürgern gewährleistet werden, der zugleich für personalisierte Beeinflussung verwendet wird, die zu noch mehr Konsum und Hyperkonsum anleitet, was zu mehr Energie- und Materialverbrauch...

Das mag man einseitig, kurzschlüssig, übertrieben finden, und vielleicht ist es das auch. Verkennt Welzer nicht die Komplexität jedes einzelnen der von ihm beschriebenen Phänomene? Nein.

Die scheinbar disparaten - und jedes für sich schon nicht haltbaren - Krisenmomente unserer Lebenswirklichkeit zusammenzudenken und so ein Gesamtbild in den Blick zu bekommen, mag alarmierend wirkend (zurecht!); vor allem lässt sich aber so über Zusammenhänge, Ursachen und Konsequenzen sprechen, die so oft verdeckt bleiben - beste Voraussetzung, um Handlungsoptionen und Alternativen zu entwickeln.

Allein: Welzer hat keine Lösung.

Während die Menschheit weiterhin jenem Phantasma hinterherjagt, das sich Wachstum nennt und das Welzer schon in Selbst Denken (2013) ausführlich behandelt hat, und Innovationen an die Stelle von (echtem) Fortschritt getreten sind, beschäftigen wir uns mit trivialen Problemen, während die wirklich drängenden Fragen aus dem Blick geraten. "Google und all die anderen lösen aussschließlich Probleme, die wir nie gehabt haben." Und Wahlkämpfe finden ohne Inhalte, dafür mit Personalien statt.

Nach all den zugespitzten Argumenten bleibt Welzer - wie schon in Selbst Denken - auch in Die smarte Diktatur wirklich überzeugende Handlungsempfehlungen schuldig; subversive Künstlergruppen eröffnen "Wunschhorizonte" in der "Effizienzhölle", Critical Design unterläuft den Überwachsungsapparat, und Widerstand gegen die Datensammler von Apple, Facebook & Co. führt deren eigene Logik ad absurdum.

Für den Alltag bleibt indes nur: Selbst denken. Bewusst konsumieren. Jede Kaufentscheidung ist nicht nur eine Werteentscheidung, sondern eine Entscheidung über den Umgang mit der eigenen Freiheit - bzw. der Freiheit anderer.

Das ist das eigentliche Geheimnis: All die versprochenen Entlastungen an Zeit, Aufwand, Aktivität, die die smarten Diktatoren unablässig anpreisen, treten genau dann ein, wenn man das Gegenteil macht. Jenseits der Steigerungslogik* erfüllen sich die Versprechen, hier erst öffnet sich Raum für die eigene Zeit, eigene Interpretationen, eigene Absichten, kurz: für die autonome Gestaltung des eigenen Lebens. Man muss weglassen können.

Harald Welzer: Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit. S. Fischer 2016