Platzangst

Plötzlich ist Platzangst bei dir …

Neulich im Gespräch über das Buch von Harald Welzer (Selbst Denken. Eine Anleitung zum Widerstand) meinte ein Freund: Die These, wir müssten uns endlich von diesem unbeirrbaren Glauben an das Wachstum verabschieden, sei ja gut und schön. Aber Wachstum sei nun einmal das Grundgesetz, der unhintergehbare Grund, der Kern des Kapitalismus, dieser, wie sagt man so schön, widerstandsfähigsten aller Gesellschaftsformen. Widerstands- und überlebensfähig vor allem, weil der Kapitalismus alles, auch das Widerständigste, zu schlucken und in neues Wachstum umzumünzen vermag.

Der Kapitalismus kann und wird nicht so ohne weiteres von der Fixierung auf Wachstum lassen. Warum sollte er auch?

“Der Kapitalismus” - das ist natürlich schon mal Quatsch. Es gibt ja nicht die Wirtschaftsform, das System, die Gesellschaft auf der einen Seite - und mich und dich und uns, die wir eigentlich nur das Beste wollen, auf der anderen. Das ist ja das Anregende an den Büchern von Welzer, Skidelsky oder auch Niko Paech: dass sie keinen Hehl daraus machen, dass wir selbst das Problem sind, das wir zu lösen haben, damit die Rede von Zukunft auch in absehbarer Zeit noch einen Sinn macht.

Selbstaufklärung muss sich gegen die allgegenwärtigen konsumistischen Verführungen durchsetzen, indem sie darauf beharrt, dass es nicht schon automatisch Sinn macht, alles haben zu wollen, nur weil man alles haben kann.*

Tatsächlich ist die Überzeugungskraft des Kapitalismus ja nicht nur irgendwelchen Wirtschaftsgesetzen geschuldet, sondern vor allem dem Fakt, dass diese Wirtschaftsform, die damit einhergehende Kultur und unser Selbst- und Weltverständnis recht gut ineinander passen.

Wir selbst sind der Kapitalismus.

Die Vorstellung, dass Lebensläufe identisch seien mit einer permanenten Aufschichtung von mehr Wissen, mehr Erfahrung, mehr Erlebnissen ist auf das Engste daran gebunden, dass unser Kulturmodell ein expansives ist - bis dahin, dass eine Kategorie wie “Wachstum” inzwischen zivilreligiöse Qualität hat.

Ich erlebe mich als Individuum als getrennt von der Welt - das macht mich ja zu dem, was ich als Ich denken und bezeichnen kann. Fortan bin ich darauf angewiesen, die Welt zu mir zu holen, mein Reich auszuweiten, Besitz anzuhäufen, die Leere zu füllen - sei es mit Wissen, mit Büchern, Autos, Geld oder auch guten Taten. Alles Versuche, zur Welt zu kommen: ich komme niemals an, aber ich komme wenigstens rum.

Regelmäßig wird es mir dabei zu eng. Plötzlich ist Platzangst bei mir. Ich habe keine Ahnung, wo ich hin will. Alles was ich weiß ist nur: dass ich weg will. Diese vermeintliche Enge (auch Leere, Sinnlosigkeit, Einsamkeit, Angst) sagt mir, es fehlt etwas. Also mach ich mich auf den Weg, möchte Teil einer Jugendbewegung sein, Teil von irgendetwas sein, das ich mir im Zweifel selbst besorge (kaufe), um es an mich zu heften und als Medium zu nutzen, als Brücke zur Welt, die es mir ermöglicht, mich in irgendeine Form von Austausch zu begeben.

Freiheit ist das zeitweilige Freimachen von der gefühlten Beklemmung.

So kommt es mir entgegen, dass es - genau wie in meinen Kindheitsträumen - heute immer mehr immer billiger und immer schneller verfügbar gibt. Das Leben, das sich um mein Selbst dreht, beweist sich im Ansammeln, im Addieren und Anhäufen: von Wissen, von Erfahrungen, von Erfolgen, von Geld und Besitz.

Mir fehlt etwas. Na und?

Was aber, wenn sich dieses Leben gar nicht um mein Selbst dreht? Wenn dieses Ich, dieses vermeintlich der Welt gegenüberstehende Individuum, hungrig nach mehr, weil es angesichts des es umgebenden Überflusses immer zu wenig hat, eine Verwechslung, ein Produkt der Umstände ist?

Da ist Platzangst bei mir; ich habe keine Ahnung, aber vielleicht ist das okay. Vielleicht ist es nicht noch mehr, das mir fehlt, sondern weniger. Und Befreiung kommt zustande, indem ich die Fenster öffne und ausmiste. Was auch immer ich anhäufe, um meine Identität zu festigen - vielleicht sind genau das die Wände meiner zu eng gewordenen Behausung?

Was wäre, wenn mir nichts fehlt? Dann erlebte der Kapitalismus wirklich mal eine Krise. Und die Zukunft begänne schon jetzt.

Mach dir erstmal keine Sorgen, sagen Ja Panik: nicht du bist in der Krise, sondern die Form, die man dir aufzwingt.

Die Idee eines Selbst ist das stärkste Rauschmittel von allen. (Brad Warner, Hardcore Zen)

Zitate aus Harald Welzer: Selbst Denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Fischer 2013.