Durch das Zwielicht ans Licht

„Regen peitschte in scharfen Stößen aus der Dunkelheit herunter. Er trommelte aufs Wellblechdach der Gepäckabfertigung und hüllte die kleine Station mit seinem Rauschen ein. Der Wind ließ die beiden Lampen an Bahnsteig und Ladestraße so heftig schwanken, dass sie von ihren Masten abzureißen drohten. Lichtkreise huschten über das Pflaster wie Scheinwerferkegel im Zirkus. Alles troff vor Nässe.“

Der Anfang eines Kinderbuches. Ein Junge, nachts, auf einer Bahnstation irgendwo in der brandenburgischen Einöde. Regen. Züge, die in der Nacht verschwinden. Und ein Fremder mit einer Narbe im Gesicht.

In einer anderen Zeit, in einem anderen Land hätte dieses Buch auch Drei Freunde heißen können. Doch hier? Ein Ort bestimmt den Titel, ein vager, unheimlicher Ort. Ein Ort macht – obwohl über weite Strecken gemieden – das Zentrum des Romans aus. Eine von Geheimnissen und Geschichten umsponnene Leerstelle mit einem Namen, der allein schon Gänsehaut erzeugen kann. „Es ist kein guter Ort. Großvater sagt, dass man nicht drüber sprechen soll.“ Das Tabu steht im Raum – und es ist klar, dass es im Lauf des Buches gebrochen werden muss.

Käuzchenkuhle, 1965 in der DDR erschienen, ist eines dieser Bücher, das für eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen zur Standardlektüre gehörte. Und es mutet dem Leser einiges zu. Fast – aber nur fast, wäre da das Ende nicht – möchte man sagen: So undidaktisch, beherzt und realistisch zugleich sollte man heute mal für Kinder schreiben. Oft muss man sich beim Lesen die Augen reiben, so genau und spannend, so ungeschönt und rauh wird diese Kriminalgeschichte erzählt.

Jampoll, der Junge von der Bahnstation, kommt wie jedes Jahr in den Ferien zu seinen Großeltern auf das Dorf. Doch alles ist anders. Der Großvater, von einer dunklen Vergangenheit geplagt, hat sich in ein Dachkämmerchen zurückgezogen. Die Konflikte in der Dorfgemeinschaft erlebt der Heranwachsende mit neuem, wachem Bewusstsein, ebenso wie die offen zutage tretenden Probleme in den Familien der Freunde. Noch ist es zu früh für „Mädchengeschichten“ - doch der still daliegende Mummelsee und die im Wald versteckte Käuzchenkuhle ziehen Jampoll und seine Freunde sowieso voll in ihren Bann. Das dürfte wohl reichen für einen Sommer voller Abenteuer.

Nein, das reicht nicht. Beseler findet allerhand Episoden aus dem harten Alltag im Dorf, die durchaus als Anschauungsmaterial für die Geschichte der frühen DDR dienen können. Rohstoffmangel, der tägliche Kampf um den Wiederaufbau, soziale Probleme – nichts, was in diesem Buch nicht widerhallt. Die Genauigkeit des Erzählers lässt es eigentlich nicht zu, dass man hier von „Abenteuern“ sprechen kann. Denn die Ereignisse unter dem fahlen brandenburgischen Himmel spitzen sich derart zu, dass es um alles oder nichts geht. Denkt man jedenfalls. Dieses Buch ist nicht nur sehr spannend. Es ist auch sehr ernst.

Nicht nur der Hund des Einfältigen, dessen Tod so einprägsam wie erschütternd geschildert wird; auch der Großvater stirbt, bevor die Geheimnisse enthüllt sind. Merkwürdig, vor allem für unsere heutigen Vorstellungen, merkwürdig aus dem Zentrum gerückt sind in diesem Buch die Menschen. Raum und Zeit sind die Themen. Mit der Käuzchenkuhle hat Beseler den geradezu enigmatischen Ort gefunden, den fortan oder schon immer jedes Kind in dem Wald seiner Kindheit ausgemacht hat. Erinnerst du dich an den Wald der toten Bäume? Gerade rechts hinter dem Rodelberg?

Hier treffen alte und neue Zeit aufeinander; die Toten eines Krieges; die Leichen der Väter-Generation. Hier wird ausgegraben, was unter dem staubigen Mantel der Geschichte versteckt liegt. Für die Neue Welt, die hier allen Widerständen zum Trotz aufgebaut werden soll, ist es geradezu notwendig, das Tabu zu brechen – und aufzuklären. Und das ist es, was Beseler seinen Lesern eigentlich zumutet: über die Widersprüche einer ganz konkreten Realität hinaus die Auseinandersetzung mit einer Geschichte, die die Kategorien von Gut und Böse ordentlich durcheinander wirbelt. So nimmt er sein jugendliches Publikum ernster, als man es in der Kinderliteratur normalerweise gewöhnt ist. Denn die Kinder sind es, das muss man von der Entstehungszeit des Buches her denken, denen die Verantwortung für die Zukunft gehört.

Aus heutiger Sicht ärgerlich sind allein die letzten 50 Seiten, die fast wie ein Zugeständnis an die Forderungen eines sozialistischen Realismus wirken. Nachdem die Geschichte immer weiter ins Dunkel getrieben wurde, hinein in ein Zwielicht, wo Gut und Böse, Alt und Neu, Täter und Opfer ununterscheidbar geworden sind, tritt der Klassenfeind ins Rampenlicht, werden die einen als Nazis benannt – und die anderen als Sieger gefeiert.