Wendejahre

Erinnerungsstücke

Mit elf Jahren hatte ich blonde Haare, ein rotes Halstuch, keine Brille. Nach der Schule spielten wir zwischen Wäschestangen und Mülltonnen Cowboy und Indianer. Oder ich gab den Moderator einer imaginären Schlagershow und degradierte meine Kumpel zu Komparsen. Abends gab ich aus dem Kinderzimmerfenster meiner besten Freundin in der Platte gegenüber Lichtzeichen mit der Taschenlampe. In den Sommerferien fuhr ich ins Internationale Pionierlager und demonstrierte zusammen mit Westberliner Pionieren auf den leeren Brandenburger Landstraßen für die Freilassung Nelson Mandelas.

Manche Kinder haben einen unsichtbaren Freund, einen Hund, eine Katze, einen Goldfisch. Ich hatte eine Band. Wie in jeder guten Band gab es einen Frontmann: mich. Ich war schon damals eine geborene Rampensau – keine Familienfeier, bei der ich nicht irgendwann auf einem Tisch stand und die Menge unterhielt. Ob Heinz Erhardt, Herricht & Preil oder Emil, ob Muddy Waters oder IC Falkenberg: ich konnte alles. Ich stellte fest, dass ich mein Publikum stärker begeistern konnte, wenn ich nicht in Phantasiesprachen sang, sondern echte Texte darbot. Ich entdeckte die Liedermacher der DDR für mich und spezialisierte mich auf Alleinunterhaltung mit Texten, die ich nicht verstand.

Ende der 80er in einem Ferienlager, das in den während der Semesterferien freistehenden Studentenwohnheimen der Freiberger Bergakademie untergebracht war. Ich plante einen bunten Abend mit Liedern: Grönemeyer und Buchenwald-Lied, Moorsoldaten und Gerhard Gundermann. Die fehlenden Texte brachte auf meine Bitte hin mein Bruder vorbei, der gerade mit dem Fahrrad durch die Republik fuhr. Und so stand ich an einem lauen Sommerabend auf einer Freiberger Wiese und sang:

Vater, du bist müde
Gib es zu
Schwerer fällt dir das Gehen

Texte des "singenden Baggerfahrers" Gerhard Gundermann von seiner gerade erschienen LP Männer, Frauen und Maschinen. Ich verstand nicht viel von dem, worüber "Gundi" sang, wenig von den Doppeldeutigkeiten, mit denen er die genauen Beobachtungen des Alltags in der DDR unterlegte. Ich mochte den Wortwitz und Gundermanns dreckigen, verzweifelten, aber irgendwie echten Optimismus. Es ging ihm um was – und mir auch! Hellwach fühlte ich das Kämpferische dieser Lieder, auch wenn mir das einige Nummern zu groß war, das Gegenüber dieses Kampfes für mich im Verborgenen blieb.

Ich wusste: alles, was ich tue, alles, was ich singe, bedeutet etwas, bewirkt etwas.

Gundermann lebte in der Nähe meiner Heimatstadt, saß am Nachbartisch in der Cafeteria des Krankenhauses, als ich Jahre später meine Mutter besuchte, und galt in der Stadt als bunter Hund. Seine Musik nach der Wende schien mir weit entfernt von jenem kämpferischen Optimismus der zu DDR-Zeiten erschienenen Debüt-LP. Irgendetwas war verschwunden – war es dieser unbedingte Glaube, dass das was man tut zählt, der einer schier unermesslichen Weite gewichen war, in der die Worte allzu oft nur widerstands- und bedeutungslos zu verhallen schienen?

Und ich weiß nicht, ob ich noch starten kann
Bis in die Welt
Und ich weiß nicht, ob ich noch warten kann
Bis die Welt mich zählt

Singen hörte ich Gundermann live jedenfalls nie; mal hielt ihn eine zerrissene Saite davon ab, vom Reden ins Musizieren zu wechseln, mal die politische Diskussion, die kein Ende nehmen wollte. Und einmal stand ich vor einem überfüllten Jugendklub und kam schlichtweg nicht rein. Als er 1998 überraschend starb, hatte ich meine Heimatstadt längst verlassen und Gundermann kaum noch auf dem Radar.

Vater, du hast mir nicht alle Wahrheit gesagt
Dass ich nicht erschreck'
Vater, doch was soll ich machen, wenn ich sie nach deinem Tod entdeck'
Nach deinem Tod erst entdeck'

Den Song An Vater, den ich damals Ende der 80er in Freiberg aufführte, hatte ich viele Jahre nicht gehört. Erst als ich selbst Vater geworden war, stolperte wieder über ihn und war verblüfft über den Rollenwechsel, den ich mittlerweile vollführt hatte. War ich jetzt nicht selbst gemeint? Heute, nachdem mein Vater gestorben ist, singe ich den Song erneut – unter Tränen. Die ursprüngliche Botschaft, eine Auseinandersetzung mit der politischen Herrschaft in der DDR, ist längst verblasst. Der Song ist mir nicht mehr zu groß, das Leben ließ mich in ihn hineinwachsen.

*

Der Fernseher hat sogar eine Fernbedienung! Anders als das russische Fabrikat, das bisher in der Anbauwand stand, zeigt der neue Fernseher alle Programme in Farbe, fast rauschfrei! 4000 Mark soll das Gerät gekostet haben, auf das meine Eltern so stolz sind. In diesem Herbst gibt es also Fernsehen fast ohne Grenzen: morgens amerikanische Zeichentrickserien, abends Vorabendprogramm in ARD und ZDF. Neben der Flimmerstunde ist nur der Freitagnachmittag für das DDR-Fernsehen reserviert, wenn über drei Stunden lang die neue Jugendsendung ELF99 läuft. Die ersten Musikvideos meines Lebens. Ich klebe an der Mattscheibe, während sich draußen die Welt verändert. Die Unordnung, das Unvorhergesehene erscheint vor allem als Störung: wenn ELF99 wieder einmal verkürzt senden muss, weil aktuelle Ereignisse Sendezeit benötigen, oder an Samstag Mittag Bilder irgendeiner Demonstration auf dem Alexanderplatz gezeigt werden. Langweilig. Als D. die Nacht des Mauerfalls vor dem Fernseher erlebt, schlafe ich tief und selig.

Die Veränderung als Störung im Programmablauf: Hals über Kopf reist mein Bruder nach Berlin. Nach dem Wochenende kehrt er mit einem Stapel von auf dem Flohmarkt erstandenen Schallplatten zurück. Fortan wird er sich in einer Welt bewegen, zu der ich nicht gehöre. Ich schau TV.

Eines Tages verabschiedet sich S. von mir. Seine Eltern haben entschieden wegzugehen. Schreibst du mir? – Ich komme bestimmt zu Besuch. – Wo zieht ihr denn hin? – Nürnberg. – Wo ist das? Ich stelle mir eine große Stadt vor: dunkel, bedrohlich, hässlich. Straßenschluchten, Neonreklame über einem grauen Häusermeer, Menschenschlangen und Drogen nehmende Jugendliche. S. tut mir leid, da hin zu müssen. Ich weiß nicht, ob wir uns wiedersehen. S. verschwindet aus meinem Leben, ein zwei Briefe noch, dann tiefschwarze Funkstille. Ich wechsel das Programm.

Ich kenne die Welt nur aus Büchern und vom Bildschirm. Als meine Eltern beschließen, nach dem Begrüßungsgeld in Berlin auch noch eine bayerische Bonuszahlung abfassen zu wollen, darf ich an einem Donnerstag Morgen die Schule schwänzen und in den Trabi steigen. Nach zwölf Stunden Fahrt, auf denen wir nicht viel anderes sahen als andere Autos, rollen wir in Hof ein, pünktlich kurz vor Schließung der Banken und Geschäfte – und fahren sofort, um 150 D-Mark reicher, zurück. In Hof ist es dunkel, und wir haben keine Zeit. Aber: was für eine häßliche Stadt!

Um die Schule kümmert sich in diesem Jahr niemand. Jeder ist irgendwie mit sich beschäftigt. Vater wird arbeitslos und wechselt den Beruf. Ich schaue fern. Vielleicht passiert das alles da draußen ja gar nicht wirklich?

Nein, der Kommunismus ist keine schlechte Idee. Ja: die DDR ist meine Heimat. Thälmann? Ist weiterhin mein Held. Die BRD: ist das nicht das Land, von dem mir immer erzählt wurde, wie furchtbar, wie dreckig, wie grau und ungerecht es dort sei? Ich weiß genau, was wahr ist und was Lüge. Ich bilde mir ein zu wissen, was sein kann und was nicht. Ich halte mich an die Bücher und ans Fernsehen, an Colt Seavers und Nackt unter Wölfen. Ich bleibe auf Distanz.

Am Abend des 2. Oktober 1990 stehen wir noch einmal auf dem Wäscheplatz zwischen den Häusern. Kommst du zum Feuerwerk heute abend? Alle feiern, das ist wie Silvester! Ich habe nichts zu feiern, sage ich. Vielleicht zerreißt an diesem Abend die behagliche Illusion namens Kindheit. Ein paar Blöcke weiter randalieren Neonazis vor dem Wohnheim der Mosambikaner. Ich sitz zu Haus und seh fern.

Plakate an den Wänden, Regale voller Bücher, Stapel von Schallplatten auf dem Fußboden. Ein C64, angeschlossen an einen überdimensionierten Fernseher, dient als Schreibmaschine. Dieses Zimmer ist eine Höhle. Mutter sagt schon lange nichts mehr zu dem Chaos. Vater betrifft mein einstiges Kinderzimmer eh nur noch selten. Letztens kam er wohl wegen der lauten Musik rein – Rio grölte gerade den Paul Panzer Blues. Statt ein Drosseln der Lautstärke zu fordern, stand Vater hilflos in der Tür und hörte eine Weile zu.

Am Montag morgen in der Hafenstraße
Da saufe ich mir ein an und dann hol ich mir ne Waffe
Da schnapp ich mir nen Knüppel und dann fackel ich nicht lang
Und geht zum Chef auf's Büro und zieh die Krücke blank

Und das findst du gut, was der da singt?, bellte Vater in das Riff zwischen den Strophen. Ein letzter Rest Autorität. Ja, presste ich mit vor Anspannung bebender Brust und nur ein wenig zitternder Stimme hervor, mit dem Versuch, meiner Verachtung ihm gegenüber genau im richtigen Maß Ausdruck zu verleihen. Ja, finde ich. Vater ging.

Draußen scheint die Sonne, aber der Spielplatz ist, wie mittlerweile eigentlich so ziemlich immer, leer. Eine rote Jalousie sperrt die Welt aus. Unbedingt wollte ich eine rote Jalousie, weil auch mein anarchistischer Taschenkalender rot ist, Ausdruck meines grundsätzlichen Nicht-Einverstandenseins, Vorgriff auf die Freiheit, auf die ich so sehnsüchtig warte. Die Zimmertür fliegt hinter mir zu, das Schulzeug landet auf dem Sofa, ich lege die Kopfhörer weg und stoppe den Walkman. "Deutschland halt's Maul" verstummt. Ich starte den Commodore, muss weiter an der Geschichte arbeiten. Ich habe R. versprochen, ihm die Überarbeitung bis zum Wochenende zu schicken, nachdem er mir in der letzten Version jeden zweiten Satz rot anstrich. Unglaubwürdig. Konkreter! Mehr Realismus! So geht das seit Monaten. Die harte Schule des Schriftstellerhandwerks. R.s zuletzt erschienenes Buch, das er mir bei meinem ersten Besuch seiner Schriftstellerwerkstatt vom Dachboden holte, finde ich zwar gähnend langweilig – kein Wunder, dass das keiner gekauft hat – aber immerhin: er ist Schriftsteller, und ich will einer werden!

Will ich das wirklich? Meine Mutter redet irgendwas von "Wirtschaft" und dass ich gut in Mathe sei. Sorry: kein Interesse. Den Kapitalismus unterstützen: no go. Nicht mit mir. Ich will die Welt verändern, drunter mache ich es nicht. Und das geht nun mal nur mit der Kunst. Außerhalb des Systems.

Ich öffne die Textverarbeitung, der Cursor blinkt, und lege los. Schreibe wieder mal zu schnell. Konkreter, hat R. geschrieben. Aber wie geht das? Ich kann das doch gar nicht alles so genau wissen? Muss man über alles Bescheid wissen, um gute Texte zu schreiben? Oder geht es nicht eher um Visionen? Statt zu beschreiben, was ist, erfinden, was sein könnte?

Es klingelt. Ich sehe aus dem Fenster. Vor der Haustür stehen Maria und Andrea. Die haben mir gerade noch gefehlt. Maria würde ich ja gern mal küssen, aber wenn sie zusammen mit Andrea unterwegs ist, reden die beiden nur immer wieder über Jesus. Die Lieder, die sie singen, finde ich langweilig. Aber Maria ist hübsch, ob die schon mal mit nem Jungen – ?

Kommt hoch, rufe ich. Welche Platte könnte ich auflegen? Wie immer, wenn die vom CVjM kommen, will ich es krachen lassen. Nur ein bisschen provozieren, Texte, die sie herausfordern – nur so können die was lernen. Die Scherben gehen eigentlich immer. Oder Nick Cave? Der ist so schön düster.

Wir trinken Tee und reden über das Konzert letzte Woche. Ich stand mit Fieber auf der Bühne – das gibt natürlich Gesprächsstoff. Ich würde ja gern mit Maria kuscheln, hab aber keine Ahnung, wie das geht. Soll ich einfach sagen: Du, ich würde gern mal – ? Nein, das ist zu plump. Überhaupt will ich das auch nicht so auf den Körper reduzieren, gar nicht: Ich mag ihre Art, nicht ihren Körper.

Ich werde aus den Gedanken gerissen, als Maria mir einen Kuss auf die Wange presst, ein Blitzen in den Augen. Bis morgen dann. Ich setze mich wieder an den Text.

Die Texte entstanden im Rahmen einer Schreibwerkstatt mit Susanne Niemeyer und Matthias Lemme rund um den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit.