Nils Frahm: All Melody
Nebel liegt an diesem Januar-Abend über der Spree. Lang war der Weg hier raus nach Köpenick. Hoch sind die Erwartungen, während wir uns von der Nalepastraße über das weitgehend im Dunkeln liegende Gelände zum Eingang des Block B bewegen, indem sich der (man möchte sagen: legendäre) Saal 1 befindet. Zum vierten Mal in Folge lädt Nils Frahm zum – ausverkauften – Heimspiel in das Funkhaus Berlin.
Hier wird er seine neue, tags darauf erscheinende LP All Melody vorstellen, und einen besseren Ort kann es dafür nicht geben. Der große Saal 1 ist nicht nur architektonisch hübsch anzusehen, die Akustik hier empfängt die von Frahm auf nahezu magische Weise produzierten Klänge auf Wärmste und gibt ihnen allen Raum zur Entfaltung. Vor allem würde das Album ohne das Funkhaus in dieser Form wahrscheinlich nicht existieren.
Das üppige Booklet macht keinen Hehl daraus: All Melody ist zunächst einmal eine Liebeserklärung an diesen Ort.
Nils Frahm hat hier vor einigen Jahren das Studio 3 bezogen. Er hat sich eingerichtet: Kabel neu verlegt, die Wandvertäfelung erneuert. Das bisherige Studio "unter dem Bett" wurde aufgelöst; endlich hatten alle Instrumente den Platz, der ihnen gebührt. Ein eigenes Mischpult wurde entwickelt und gebaut. Und während er, wie er schreibt, dem Klang der reverb chambers des Funkhauses dermaßen erlag, dass er zu arbeiten vergaß, machte Nils Frahm dann doch eine Platte.
All Melody handelt, wen wundert's, von dem, was möglich ist: von dem, was am Ende umgesetzt, aufgenommen wurde. Und von dem Unhörbaren, dem ganzen großen Rest.
Im Konzert zündet Nils Frahm ein zweistündiges Wunderwerk. Nachdem 20:30 Uhr das Licht gedimmt wird, legt sich eine erwartungsvolle Ruhe über die Menge, die auf dem Boden rund um das schier unüberschaubare Equipment versammelt ist. Stille. Auftritt Frahm, der mit Schirmmütze und grauem Pullover das Understatement in Person gibt. Mit einem einfachen, einsam erklingenden Motiv beginnt er den Abend. Wenig später bewegt sich Frahm im von ihm entfachten Rhythmus zwischen all den gleichzeitig bedienten Geräten, so dass man kaum weiß, wer da wen spielt: der Meister seine Instrumente, oder die Musik den Musiker?
Es geht vergleichsweise elektronisch zu; zwar gibt es lange ruhige, lyrische Passagen, doch entwickelt Nils Frahm daraus immer wieder nahezu orchestral anmutende Tracks, die alle Bodenhaftung vergessen lassen. So geht Schweben. Gleichzeitig, bei aller himmlisch-technoiden Komplexität, sind die von Frahm produzierten Klänge dermaßen organisch und warm, ein permanentes Pulsieren, in das man sich legen möchte (und darf). Womit wir wiederum bei dem Ort und bei der Platte sind.
Frahm hat sich hier ein Refugium geschaffen, das seiner Imagination jeglichen Raum lässt – und vor allem die Grenzen der Realisierbarkeit weit verschiebt. Nach dem Konzert legen wir die Platte auf. Man hört Schritte in der Tiefe des Raums. Dann ein Chor. The whole universe wants to be touched heißt der Opener, der sich in kürzester Zeit in einen eleganten Dance-Track verwandelt. Die Tracks auf diesem Album sind vielseitiger als man es bisher von Frahm gewohnt war. Zahlreiche Gäste, unter anderem Sven Kacirek und Anne Müller, haben mitgewirkt, Marimbas, Blasinstrumente, Cello und Percussion haben neben all den von Frahm selbst gespielten Instrumenten ihren Auftritt. Alles ist glasklar abgemischt, bei aller Vielschichtigkeit ist kein Klang zu viel, hat jeder Ton Raum. Die Wärme des Konzerts, das Organische, Atmende: das alles ist genauso da.
Vor allem aber: der Hall. Er gibt dem Klang eine schier unendliche Tiefe. Aus der Dunkelheit der Funkhaus-eigenen Reverb Chamber treten immer neue Klänge, Geräusche, Motive hervor. All Melody erzählt von einem Raum voller Möglichkeiten. Wie auch immer dieser Raum sich füllt: Er wird nie zu eng.