Abschied (1)

der Mensch ist ein Atem, nicht mehr

ein Mensch ist ein Atem, nicht mehr. Stunden
in dem Raum, in dem Vater die letzten Jahre gelebt hat.
mein Vater, ein Atem, kaum mehr. Stunden
im Rhythmus eines Atems.

'46 geboren, von seinen Träumen
weiß ich nichts. vielleicht
träumte er davon zu singen.
dann fehlte der Mut.

Sohn eines unbekannten Vaters, den zu suchen
er ein Auto klaute, ans Meer fuhr, rüber
in den Westen wollte er –
dann fehlte das Glück.

Jugendwerkhof, Lehre, Arbeit – wer war er?
die Familie: kein Zuhause, eher eine Pflicht?
und das Hobby? wird zum Beruf ...
zuletzt fehlte die Kraft.

gibt es ein richtiges Leben
im falschen?
ich erinnere mich

an Stunden in der Dunkelkammer,
an die Fahrt im Trabant, die an einem Kilometerstein endete,
ich weiter trampend, Hilfe holend, er
blieb zurück –

an Fahrten erinnere ich mich, doch nicht daran,
was wir taten, wie es war, am Ziel angelangt,
daran, wie er mir das Fotografieren beibrachte,
an Fotos erinnere ich mich, die Kamera immer zwischen uns –
ein Bild von ihm finde ich nicht,

an gemeinsame Aufträge im Dienst der Zeitung,
er Foto, ich Text,
an das Krippenspiel, das wir besuchten mit Kamera und Notizbuch,
doch nicht, dass wir über das Gesehene sprachen,

seinen Stolz auf mich,
meinen Hass auf ihn –

ich erinnere mich nicht.

zuletzt: der Gebrechliche, Zerbrochene, der nicht mehr laufen und später nicht mehr reden kann, der
wehmütig die Enkelkinder ansieht, ohne Teil zu sein in ihrem Leben. der Gescheiterte, in dessen Augen
ich gern lesen würde, Ausgleich für das unmögliche Gespräch. der längst schon Verstummte, der nur spiegelt,
was wir in ihm sehen:

Trauer über so viel ungelebtes Leben
(von seinem Glück weiß ich nichts).

jetzt:
der dreiundzwanzigste April zweitausendundzwanzig,
früher Nachmittag:

nur noch ein Atem ist er, nicht mehr.
blau angelaufene Finger.
die kaum noch sich hebende Brust.
das blasse, bis zur Unkenntlichkeit entstellte Gesicht.
tief eingefallen die Augen, weit geöffnet der Mund.

mein Vater
ein Atem
nicht mehr

die kränkung

ein Mensch stirbt
die Vögel singen weiter
im schönsten Sonnenschein

(life is not about you)

der Trost

wer auch immer,
wer hat dich bei deinem Namen gerufen?
wer auch immer du warst,
du darfst nun gehen, wohin?
wohin auch immer du gehst.

das Gewebe

wo Ich war
Leere
darüber wächst
das Gras


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