Der einzige Christ der Welt?

Ich gehe von dir viel hungriger weg, als ich bei meiner Ankunft war,

sagt Schmuel, einer der drei Protagonisten in Amos Oz' Roman Judas zu der schönen, geheimnisvollen, zornigen Witwe Atalja, als er nach gerade mal einem Winter das Haus des Juden Gerschom Wald wieder verlässt. Das wäre es auch schon, das Personal des Romans - gäbe es da nicht einige Geister aus der Vergangenheit, ohne die die Gegenwart, in diesem Fall die Gegenwart Israels 10 Jahre nach der Staatsgründung, nicht zu haben ist.

Schmuel, dessen Beschäftigung mit der Sicht der Juden auf den Jesus-Verräter Judas nur eine der Handlungsebenen ist, auf die der Roman-Titel anspielt, suchte eine Rückzugsmöglichkeit aus einem Leben voller Überforderungen; er suchte Distanz, Theorie; er erfährt verstörendste Intimität und eine Realität, deren Komplexität keine Antwort, keine Theorie befrieden kann.

In drei Monaten lernen wir mit Schmuel einiges über die Vergangenheit dieses alten Jerusalemer Hauses, in das nur wenig Licht dringt; ihre Geheimnisse werden die Bewohner des Hauses dennoch behalten. Jeder bleibt allein in diesem Kammerspiel, allein mit seinen Fragen, unerlöst durch Antworten. Judas ist ein Bildungsroman, in dem allzu leichtfertige Antworten durch Erfahrung, durch Verstörung, durch die Unmöglichkeit einer Antwort ersetzt werden.

Amos Oz sagt über Schmuel[^1]:

Am Anfang des Romans war er ein Ausrufezeichen auf zwei Beinen. Er verlässt den Roman als Fragezeichen.

War Judas der einzige, der erste, der letzte Christ der Welt? Und ist der Zweifelnde, der Verräter vielleicht der wahre Gläubige?

[^1]: "Judas war vielleicht der einzige Christ der Welt". Amos Oz im Gespräch mit Denis Scheck. Deutschlandfunk, 10.04.2015


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