Der Strom
1
Im Zentrum des Universums steht ein Tisch: "la table de la poétesse". Er stellt das Kraftzentrum dar, an dem sich Energieströme, Zeitläufe, Echos aus anderen Räumen treffen, von dem sie ausgehen, in schier unbegreifbare, letzten Endes unerreichbare Verwinkelungen. Kleine Schluchten, kleine Nischen, "angedeutete Räume" umgeben ihn, so die letzten Endes höchst unzuverlässige Erzählerin. Der Ort gleicht eher einem wenngleich mikroskopisch kleinem Ballsaal als einem philosophischen Stammtisch.
2
Dabei geht es in dem schmalen neuen Band der in Leipzig lebenden Autorin Angela Krauß um nicht viel weniger als die "Essenz des Daseins", so lässt die Erzählerin den Leser gleich zu Beginn wissen. Ich erinnere mich an das erste Buch, das ich von Angela Krauß las: Sommer auf dem Eis bewegte sich in entzückenden Pirouetten durch die eigentlich so triste Nachwenderealität im Bitterfelder Land. Auch der Titel ihrer 1995 erschienen Erzählung Die Überfliegerin bezeugt ein zumindest ambivalentes Verhältnis der Autorin zur Schwerkraft und anderen, scheinbar unumstößlich geltenden Gesetzen.
3
In ihrer Suche nach der Essenz des Daseins in der nun veröffentlichten Erzählung (?) Der Strom kehrt Krauß zu dem merkwürdigen Reisebericht zurück, mit dem sie in Die Überfliegerin eine eigene Wendegeschichte erzählte.
Vor dreißig Jahren faßte ich mit zwei Fingern den Zipfel der Tapete unter meiner Zimmerdecke und riß sie herunter, ich stieß das Fenster auf. Ich wollte fliegen.
In sieben Abschnitten, teils in Novellenform, teils in einer Art freier Lyrik geschrieben, gespickt von beglückenden und manchmal schwer zu verdauenden Aphorismen, umkreist sie "Lebensänderungsphantasien", Augenblicke der Tat, in denen im rechten Zeitpunkt gar die Weltgeschichte selbst durchlässig zu werden scheint, Momente der Erwartung, der Hoffnung, des Glücks.
4
Der Tisch im französischen Restaurant und das Zimmer unter dem Dach: hier hat die Erzählerin, und mit ihr ihr Leser, scheinbar festen Boden unter den Füßen. Bewirtet vom Monsieur Le Patron, beschützt vom weit weg Tennis spielenden Mäzen, zieht sie von hier aus kleinere und größere Kreise durch nicht weniger als das "Universum". Die Überfliegerin, revisited? Vielleicht. Es ist ein Flug, angetan, einem dem Atem zu nehmen und die Sichtweise – derart auf Abstand zur sonst so lautstarken Welt – zu verrücken.
5
Der Strom also ein Bewusstseinsstrom? Nein, das würde das Tänzerische, Sinnliche, das Genussvolle dieser Seiten unterschlagen. Geschrieben immerhin, so die Behauptung, am Tisch eines französischen Restaurants! Ganz physisch steht die Erzählerin "unter Strom"; ein "Strom der Entgrenzung", heißt es irgendwann: ein "orgiastisches Gewahrsein",
als sei mein Körper dabei, von der Peripherie her wach zu werden,
so schreibt sie: "Raum und Körper sind eins". Irgendwann erfasst sie ein "Sternschnuppenstrom aus Schneekristallen".
6
Wieder sind es Pirouetten, Salti, jeder Schwerkraft und Vernunft trotzende Tanz- und Flugbewegungen, die das Schreiben von Angela Krauß so einzigartig und aufregend machen. Erkenntnisse blitzen auf und verschwinden, die Gegenwart ist nur ein Satzzeichen von der Vergangenheit getrennt, Wachsein und Traum sind nicht zu unterscheiden. Ein mitternächtlicher Spaziergang über das Bahnhofsgelände: die vertrauten Größenordnungen der Geographie lösen sich in einer Allgegenwart auf, in der auch 30 Jahre keinen Unterschied machen. Kaum zu fassen, wie diese Erzählweise voller surrealer Magie in aller Kürze eine eigene, hypnotische Logik zu entwickeln vermag.
War ich es, die hier stand – auf dem Plateau der Zeit, auf dem jetzt alles ausgebreitet schien, das Gestern, das Heute, das Morgen sich ohne Innehalten ineinanderschlangen, im Tanz der Dinge und der Taten, der Gedanken, Gefühle und Gedichte.
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Und die Wirklichkeit? "Nur eine Spielart des Möglichen, es gibt unendlich viele." Realität und Fiktion – nur erbärmliche, wenngleich sinnvolle Konstrukte zur Orientierung in einer Welt, die sich nur augenblicksweise verstehen lässt? "Das Verstehen ist so eine Sache, eine Art Trost- und Wahnvorstellung."
Essenz?
Es gibt unendlich viele Arten, die Wirklichkeit zu beschreiben. Die Wirklichkeit ersteht und zerfällt in jedem Moment. Irgendwo schlägt das Pendel des Spiels.
Die Sprache von Angela Krauß beschreibt Wirklichkeit nicht, sie spielt mit ihr. Die lust- und listvolle Unabhängigkeit in ihren schmalen Büchern mag mitunter eskapistisch. Luxusprobleme. Die aufgeregten Krisen und Kämpfe der Gegenwart finden in diesem Buch nicht statt. Wenngleich die Zeilen in Der Strom vom Zweifel an den Versprechen der Informations- und Konsumgesellschaft durchtränkt sind.
Doch der scheinbaren Allmacht des Faktischen hält Angela Krauß, dreißig Jahre nach der Friedlichen Revolution, ganz unbeirrt den Überschuss des (nicht eingelösten) Möglichen entgegen. Mit dem Aufschlagen von Der Strom betritt der Leser einen Raum größtmöglicher Freiheit. "Die Zukunft lacht, daß es leise hallt." Nicht nur die Autorin kann man sich als glücklichen Menschen vorstellen.