Die Überwindung der Schwerkraft
200 Seiten ohne Kapitel, ohne Absätze – nicht nur äußerlich erinnert Die Überwindung der Schwerkraft an Peter Weiss' Erzählung Abschied von den Eltern. Dort: die Reise zurück in die eigene Geschichte, die Auseinandersetzung mit den gestorbenen Eltern im Spiegel der Psychoanalyse, auf der Suche "nach einem eigenen Leben". Hier: der Versuch, hinter unzähligen getrunkenen Bieren, zwischen den dunklen Ecken der Geschichte den eigenen Bruder zu finden und vielleicht endlich loslassen zu können.
Heinz Helle schreibt nicht nur ohne Absatz – über dem manischen Wühlen in der Vergangenheit verliert sein Ich-Erzähler allen Anstand in Sachen Satzkonstruktion und weicht dem Setzen von Punkten nahezu pedantisch aus. In den teilweise über Seiten sich erstreckenden Satzkonstruktionen überlagern sich Gegenwart und Vergangenheit, Erlebtes und Gesprochenes; die Erinnerung des Erzählers duchdringt Situationen eigentlich immer hin auf die in ihr ausgesprochenen Gedanken. Und die haben es in sich.
Maßloser Alkoholkonsum trifft auf nicht endende Gedankengänge
Man hat dann gar keine andere Wahl, schrieb mein Bruder weiter, als zu meinen, dass sich die Schwerkraft gegen einen persönlich richtet, ebenso wie die Zeit, die Angst, das Vergessen, und man beginnt, zu übersehen, dass alle anderen ebenso diesem Sog ausgesetzt sind, diesem fortwährenden Weggezerrt-Werden vom Jetzt, diesem seltsamen Sturm, der einen immer einen Meter vor sich selbst stehen lässt, und er sei, wie er fortfuhr, immer mehr zu der Überzeugung gelangt, dass es schwach ist und klein, sich immer wieder von Neuem Aufschub zu gewähren auf dem Weg, der zu werden, der man einmal dachte sein zu wollen, und wer sich erfolgreich einredet, er habe ja noch Zeit, ein besserer Mensch zu werden, oder glücklich, oder reich, ist schon lange verloren, nur Kinder könnten es sich erlauben, wirklich und ehrlich zu warten, weil nur sie nicht wissen, dass sie nicht wissen worauf.
Nein: der Bruder, dieser "laute Mann in der Wolke aus Liebe und Wut", war kein einfacher, kein angenehmer Zeitgenosse, die "Überwindung der Schwerkraft", der Kampf gegen das "Weggezerrt-Werden vom Jetzt" ein lebenslanges (zunehmend verzweifeltes?) Projekt, das nun der kleine Bruder geerbt hat. Begegnungen wie die letzte, die mit 80 Seiten im Zentrum des Buches steht, waren scheinbar die Regel: Maßloser Alkoholkonsum trifft auf nicht endende Gedankengänge, in denen Banales und Existentielles untrennbar miteinander verstrickt werden, bis sich die Welt – ob als Folge des Alkoholpegels oder der sich dem Morgengrauen entgegen windenden Gespräche – zu drehen beginnt.
Auf der Suche in der vergangenen Zeit
Sieben Jahre nach seinem Tod erinnert sich sein Halb-Bruder (ein Vater, zwei Mütter, hier Keimzelle einer Familientragödie und eben auch Ursache der Selbstverstümmelung des Bruders). In einer Art Gedächtnisprotokoll versucht er das Geschehen einzuholen, die Begegnungen, Briefe, Telefonate zu durchleuchten, wobei die Sprache dem Geschehen (und mehr noch: den Gedanken) kaum hinterher kommt. Immer bleibt ein Rest. Vielleicht ist das die eine Erkenntnis dieses Buches.
Warum war sein Bruder, wie er war? Warum verfiel er dem Alkohol? Warum diese Maßlosigkeit, diese Absolutheit, diese Radikalität des Alles-oder-Nichts? Warum die Obsession des Historikers nicht nur für die dunklen, gewälttätigen Ecken der Geschichte (Marc Dutroux, Hitler), sondern auch für das Leiden von Kindern? Warum die immer wieder, scheinbar schicksalhaft scheiternden, Beziehungen?
Alles fällt in sich zusammen ... unsere Ziele, unsere Liebe, unsere Welt,
sagt der Bruder irgendwann, und
dass er früher noch daran geglaubt habe, dass wir es selbst in der Hand hätten, zu entscheiden, was wir uns zu Herzen nehmen und was nicht ... dass es in unserem Leben keinen anderen Erzähler gebe außer uns selbst.
Allein, die Schwerkraft scheint übermächtig. Der Bruder scheint irgendwann den Kampf um die Macht über das eigene Leben aufgegeben zu haben. Eine Geschichte aber hat er noch zu erzählen – eine Geschichte, deren Geheimnis sein Bruder auch Jahre später noch nicht gelüftet haben wird ...
Zürich - München - Stalingrad
"Es dauerte auch jetzt nicht lange, ehe mir wieder mein Bruder einfiel", heißt es irgendwann. Ein regelrechter Zwang zur Erinnerung liegt auf dem Erzähler, es braucht nur einen kleinen Anlass, und schon wird das nächste Gespräch referiert, ein neuer Brief herangezogen, wieder eine Parallele gesucht. Erinnerungen schieben sich vor Erinnerungen, Situationen spiegeln sich in klugen Gedanken. Wie Heinz Helle die Stille zwischen den Sätzen zugunsten der immer noch eloquenteren Formulierung, dem noch originelleren Bild opfert, das finde ich mitunter ziemlich anstrengend. Kurz leuchtet ein Bild der Stadt Zürich im nächtlichen Schneetreiben auf – der Erzähler denkt an Stalingrad (und natürlich seinen Bruder).
Diesem fortwährenden "Weggezerrt-Werden vom Jetzt", wie es der Bruder formuliert hat, vermag auch Helles Erzähler nichts entgegenzuhalten. Die Schwerkraft, so die zweite Erkenntnis dieses Buches, lässt sich eben doch nur momentweise überwinden, im Sprechen, im Erzählen, im Heraufbeschwören einzelner Augenblicke.
So erzählt dieses Buch auch von der Angst vor der Stille, wenn der aufgewirbelte Staub zu Boden sinkt und die Einsamkeit sichtbar wird. Der Bruder hatte wohl sein Vergnügen daran, mit Worten zu jonglieren, so dass es
letzten Endes nur darum ging, wie das klang, was er schrieb, wenn man es laut und deutlich, Wort für Wort vorlas.