Jenseits des Grabes

Jean-Baptiste Adamsberg, der Pariser Kommissar, der seit den 1990ern in mittlerweile zehn Kriminalromanen der französischen Autorin Fred Vargas zum Einsatz kommt, wirkt ein wenig wie ein Gegenentwurf zu Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes: Sein Kennzeichen ist die Langsamkeit, mit der er seinen Ermittlungen nachgeht – die aber gleichzeitig, auf Basis "vager Ideen", überraschende Erkenntnisse und Schlussfolgerungen zutage fördern, was bei Beteiligten – Ermittlerin, Zeugen und selbst Tätern – für eine Menge Irritationen sorgt. Ähnlich wie der Kollege aus der Baker Street vertraut Adamsberg seiner genauen Beobachtungsgabe – im Vergleich zu Sherlock Holmes aber gibt er nicht so viel auf Rationalität, sondern vertraut seinem Bauchgefühl. Auch als Leser steht man da mitunter im Regen.

Als "Dr. Watson" steht Adamsberg in seinem neuesten Fall, Jenseits des Grabes, der bretonische Kommissar Matthieu zur Seite, oft kopfschüttelnd, mit Fragezeichen in den Augen, dann aber doch an der entscheidenden Stelle hilfreich (und manchmal auch schneller als der aus Paris in die Bretagne gereiste Kommissar). In Paris nämlich lässt Adamsberg alles stehen und liegen, als er in der Zeitung von einem Mordfall im bretonischen Dorf Louviec erfährt – warum, weiß er selbst nicht so genau. Es ist der Auftakt zu einer mysteriösen Mordserie: alle Opfer werden mit einem wertvollen Messer erstochen, haben frische Flohbisse – und ein zerdrücktes Ei in der Hand.  

"Zwei Messerstiche in die Brust. Mit dem einen wurde die Lunge durchbohrt, mit dem anderen eine Rippe gebrochen und das Herz verletzt. Der Arzt rief einen Rettungswagen aus Combourg herbei und blieb bei dem Verletzten. Der geredet hat."
Fred Vargas: Jenseits des Grabes
Fred Vargas: Jenseits des Grabes. Aus dem Französischen von Claudia Marquardt. Limes 2024

Adamsberg reist also in die Bretagne und holt auch bald sein Team hinterher. Und Fred Vargas entführt ihre Leser sehr stimmungsvoll in eine Welt voller Legenden, Mystik und verschrobener Charaktere. Da ist zum Beispiel Josselin de Chateaubriand, ein Nachfahre des François-René de Chateaubriand, französischer Nationaldichter aus der Romantik, der seinem Ahnen auch noch wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Einem seiner Werke ist der deutsche Titel des Romans entliehen: Erinnerungen von jenseits des Grabes.

Viel sprechender aber ist der französische Originaltitel: Sur la dalle ("Auf der Platte") empfängt Adamsberg nämlich in einem meditativ-somnambulen Zustand seine Eingebungen: auf der Platte eines bretonischen Dolmen. Nachdem zunächst Chateubriand als Verdächtiger in Frage kommt, verfolgt Adamsberg bald eigene Ideen, die zu einer zwar sehr ausführlich erzählten, aber umso spannenderen Verfolgungsjagd führen.

"Wer Adamsberg kannte, dem war bewusst, dass Nachdenken keineswegs bedeutete, an einem Tisch zu sitzen und die Stirn auf einer Hand abzustützen. Adamsberg dachte nach, indem er sich seinen langsamen Schritten hingab und Gedanken aller Art im Rhythmus seines schaukelnden Ganges vorüberziehen, sich kreuzen, aufeinanderprallen, sich ansammeln und wieder zerstreuen, kurzum, sie nach Belieben schalten und walten ließ."

Kein Wunder, dass Vargas für solch eine Ermittlungsarbeit gut 500 Seiten braucht – und die Leser einen entsprechend langen Atem. Belohnt werden sie mit skurrilen Charakteren, überraschenden Plot-Twists und einem poetischen Ausflug in die traditionsreiche, geheimnisvolle Region im Westen Frankreichs. Ein ideales Buch etwa, um sich die Urlaubsnächte zu verkürzen. Der mittlerweile zehnte Adamsberg-Roman eignet sich in jedem Fall auch gut, um in die Reihe einzusteigen: besser spät als nie.