Heiner Müller Amerika
Angestiftet von der Theaterwissenschaft, war Heiner Müller für mich ein ganzes Studium lang die prägende Figur: von ihm lernte ich, Theater zu denken (bevor ich es selbst machte), ihm verdankte ich zu mindestens 75% den Stoff all meiner Hausarbeiten und Referate, er prägte die zentrale Argumentation der Magisterarbeit. Im Anschluss hätte ich dann fast den Philoktet inszeniert – stattdessen philosophierte ich mit Theo Girshausen in meiner Abschlussprüfung darüber, ob die Müllersche Fassung des antiken Stoffes in der Kneipe entstanden sein könnte, und verlor Müller langsam aus den Augen.
15 Jahre sind seitdem vergangen. Mit dem jüngst bei Suhrkamp erschienenen Lesebuch Der amerikanische Leviathan wollte ich nun der alten Faszination nachspüren. Mal schauen, ob Müller mir heute noch (bzw. wieder) was zu sagen hat. Immerhin war es das 1989 von Frank Hörnigk herausgegebene Lesebuch Heiner Müller Material, das mich in Form eines irgendwann mit Notizen und Markierungen übermalten Stapels Fotokopien aus der Uni-Bibliothek zu Beginn meines Studiums nicht losgelassen hatte. Schade: der von Frank M. Raddatz besorgten Auswahl zu den Spuren Amerikas in Müllers Werk gelingt dieses Maß an Faszination nicht.
Das hat sicher auch etwas mit der Grundkonzeption zu tun. Wie schon in anderen Fällen handelt es sich bei dem in der edition Suhrkamp erschienenen Band um eine Art Konkordanz zur Werkausgabe – man könnte auch sagen: hier findet sich eine recht eklektisch zusammengestellte Wiederverwertung von Bruchstücken aus Müllers Schaffen, die mal mehr, mal weniger erhellend sind. Lyrik, Prosa, Dramatik, Interviews natürlich – kürzere und längere Textfetzen sind hier zu Stichworten von "Amerikaerfahrung" bis "Zweiter Weltkrieg" versammelt. Leider fehlen, abgesehen von den Verweisen auf die jeweilige Quelle, jegliche Anmerkungen und Einordnungen, so dass man mit manchen, vor allem kürzeren Texten komplett auf sich gestellt ist, Rezensionen etwa, deren Gegenstand im Dunkeln bleibt, sich kaum entschlüsseln lassen. Wäre nicht das hervorragende Nachwort, so wäre mit der Auswahl kaum etwas gewonnen.
Vor allem aber zeigt sich in der Textauswahl die Historizität der Müllerschen Texte. Sätze, wie in Stein gemeißelt, eine Sprache, deren Ursprung die Mechanik der Schreibmaschine war, die archaisch anmutende Hervorhebung durch Versalien und die äußerste Reduktion der Sprache bis an die Grenze zum Kryptischen: irgendwie fühlt sich das heute nicht nur fremd an – es mangelt dem Ganzen doch an der zu seiner Zeit sicherlich vorhandenen Dringlichkeit. Man braucht nicht mal den zum Kult erhobenen späten Müller vor Augen haben, Zigarre und Whisky, im Gespräch mit Alexander Kluge: die Distanz des Intellektuellen, die Müller fast durchweg für sich in Anspruch nimmt, wirkt aus heutiger Sicht wie ein Privileg, das man irgendwie nicht wirklich vermisst.
Wenn der Suhrkamp-Verlag im Wahljahr 2020 einen Band mit Amerika-Texten eines seiner wichtigen Dramatiker auflegt, könnte man erwarten, dass da an irgendeiner Stelle Relevanz aufblitzt. Aber – zumindest aus meiner Sicht – Fehlanzeige. Müllers Amerikareisen seit Mitte der 1970er waren zwar wichtige Erfahrungen, die seine Texte vor allem durch eine neuartige Erfahrung der Landschaft, des Raums, geprägt haben, wie Raddatz im Nachwort ausführt; gleichzeitig aber bereist Müller die USA mit größtmöglicher Distanz, mit eher theoretischem, ästhetischem Interesse, ja als Cineast, der vor einer unermesslich großen Leinwand steht – der damit gewonnene Erkenntnisgewinn bleibt, zumindest aus heutiger Perspektive, auf fragwürdigem Niveau.
Letztlich steckt Müller in einem Zwiespalt: prägende Künstler wie William Faulkner oder Robert Wilson auf der einen Seite, eine Konsumgesellschaft auf der anderen, die seinen Kulturpessimismus befeuert, und die wir mittlerweile weit besser kennen als Müller dies je möglich gewesen wäre. Ressentiment vs. Faszination: dieser unentschiedene Zweikampf zieht sich durch die Texte dieses Müller-Lexikons. Heiner Müller als Erzählmaschine, die auch noch zu den entlegensten Stichwörtern eine passende Geschichte auf Lager hat: auch dieser zweifelhafte Eindruck bleibt bei Lektüre des Bandes. Spannend wird das immerhin dort, wo die Texte sich gegenseitig ins Gespräch nehmen und einander kommentieren: die autobiographische Notiz dort, die Anekdote im Interview, und dann die sprachlich zugespitzte Verarbeitung im Stücktext.
Trotzdem: Der Band lässt mich unzufrieden zurück. Und nun? Zurück zu den Stücken. Den Philoktet werde ich mir schon mal bereit legen. Von Müller stammte doch auch dieses Diktum, die Texte wären klüger als ihr Autor.