Vom Aufstehen
"Mein idealer Ort ist eine Erinnerung."
Mit diesem Satz beginnt Helga Schuberts unverhofftes Comeback: der Erzählband Vom Aufstehen ist die erste Veröffentlichung einer der wichtigsten Stimmen der ostdeutschen Literatur seit fast 20 Jahren. Eigentlich aber meldete sich Schubert, die vor und vor allem nach der Wende immer wieder auch als kritische und politisch engagierte Intellektuelle in Erscheinung trat, schon 2020 mit einem Überraschungserfolg zurück, als sie für die Erzählung gleichen Titels den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt.
Die Erzählung Vom Aufstehen steht nun am Schluss des Bandes, der die auf den achtzehn preisgekrönten Seiten angeschnittenen Themen aufgreift, vertieft, weitererzählt.
Ein Leben in Geschichten
In 29 meist sehr kurzen Prosastücken reist Helga Schubert sehr frei und assoziativ durch ihr Leben. Dabei kreist sie immer wieder um die angespannte Beziehung zu ihrer Mutter, um den im 2. Weltkrieg jung gefallenen Vater, um ihren Mann, den sie heute, in der Gegenwart, zuhause pflegt. Von diesen persönlichen Themen braucht es mitunter nicht einmal einen Absatz, um die Brücke zu schlagen zu Politik und Gesellschaft in der DDR, zu den Spannungen der Wendezeit oder den aktuellen politischen Zuständen – das Private und Gesellschaftliche liegt in Schuberts Erzählen nah beeinander, ist eng ineinander verschlungen.
"Das ist das Gute, das Sanfte, das Glückbringende am Alter: Ich muss gar nichts."
So ruhig, so lakonisch, so fernab heutiger Aufgeregtheit die Sprache dieser Autorin ist, so gebannt, berührt und dankbar liest man sich in ihrem Schreiben fest. Kleine Details, Gerüche etwa, Sinnliches aller Art schaffen Lebensräume, in denen Schubert ihre Figuren auftreten lässt: interessiert an ihrer Lebendigkeit, Widersprüchlichkeit, an ihren Abgründen wie Alltäglichkeiten. So schwierig etwa die Beziehung zu ihrer Mutter bis zu deren Tod mit hundertein Jahren war, so wenig verlangt es der Erzählerin nach Urteilen; sie will begreifen, sucht immer wieder die Beziehung, das Gespräch, das Verstehen.
"Nichts ist klar so oder so, erfahre ich beim Schreiben oder spätestens beim Lesen."
Zu Beginn des Buches reisen wir zu diesem idealen Ort in der Erinnerung der Erzählerin: in den Garten der Großmutter in Greifswald, wo sie als Schülerin ihre Sommerferien verbringen konnte. Mit warmem Streuselkuchen wird sie aus dem Mittagsschlaf in der Hängematte geweckt, Tag für Tag, "bis zum Ende des Sommers". Die Erinnerung an diese Wärme und Geborgenheit tragen durch ein ganzes Leben mit all seiner Kälte und allen, natürlich, Widrigkeiten.
Spiegelbildlich dazu der letzte, der preisgekrönte Text: die Erzählerin liegt 18 Seiten lang geborgen im Bett, müsste aber eigentlich aufstehen, um ihren kranken Mann zu pflegen. Stattdessen reist sie (noch einmal) wie als Résumé der vorangegangenen Erzählungen durch ihr Leben und den damit verbunden Schmerz.
"Es ist nichts so schlecht, dass es nicht auch zu etwas gut wäre, soll ich schon als kleines Kind zu meiner Mutter gesagt haben."
Und natürlich, wie kann es anders sein, steht sie am Ende auf, wendet sich dem Leben in seiner ganzen Bescheidenheit zu – aber voller Dank, voller warmer Zuversicht. Auf diesen achtzehn Seiten werden die Widersprüche und Erfahrungen eines ganzen Leben so meisterhaft verdichtet, dass das anderen für einen ganzen Roman genügt hätte – Helga Schubert gelingt das völlig unprätentiös, ja beiläufig.
Es sind ganz und gar unwahrscheinliche Texte, die doch so naheliegen: wie man sich im Leben einrichtet, ohne es sich bequem zu machen, das lässt sich hier erfahren. Spröde, ehrlich, voller Widerhaken und leisem Witz sind diese kleinen Prosastücke – und wir als Leser*innen dürfen uns glücklich schätzen über dieses "Wiederaufstehen". Danke, Helga Schubert.