John Williams: Stoner

William Stoner ist am Ende seines nicht gerade ereignisreichen Lebens ein Fossil, Überbleibsel einer Welt, die von zwei Weltkriegen und der zunehmend entfesselten Beschleunigung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschüttet worden ist. John Williams erzählt in Stoner, einem meisterhaften Stück amerikanischer Prosa, vom scheinbar unspektakulären Leben dieses Mannes, von der Liebe zur Dichtung, von einer unglücklichen Ehe und der Liebe zu einem Kind, von Zwängen und nicht erfüllten Hoffnungen - und von einem Menschen, dem das Zweckdenken, das Verfolgen der eigenen Ziele auf ganz merkwürdige Weise abgeht.

In einfacher Sprache schildert der Erzähler dieses Leben, das im Grunde einer geradezu langweiligen Schifffahrt gleicht: da gibt es den ein oder anderen Sturm, Untiefen oder gefährliche Felsen werden gestreift, alles aber wird überstanden. Die Katastrophen der Weltgeschichte flimmern am Horizont, nur die Passagiere tragen ab und an ihre Spuren. Am Ende legt das Schiff am Hafen an - Stoner’s Leben endet still und leise und dennoch glücklich. Der gerade frisch emeritierte Professor weiß, dass er keine Spuren hinterlässt. Dennoch:

Er war er selbst, und er wusste, was er gewesen war.

Dass der Autor sich eines Kommentars völlig enthält, ob das von ihm geschilderte Leben ein glückliches oder ein vertanes war, dass keine der (getroffenen oder ausgelassenen) Entscheidungen des Protagonisten bewertet wird, macht den Reiz und den doppelten Boden dieses Romans aus. Was war falsch? Was war richtig? Wurden hier die Möglichkeiten eines Lebens nicht ausgenutzt? Ist Stoner, mittellos aufgewachsen auf einer Farm, lebenslang und ohne Karriereambitionen an der Universität angestellt, unglücklich verheiratet, in einer kurzen Phase seines Lebens glücklich verliebt - ist dieser Mann Mittelmaß, Versager, ein Feigling, wie es in manchen Rezensionen zu lesen ist?

Ist Stoner das Dokument einer inneren Versteinerung, eines Rückzugs in die Bastion der schönen Künste, empfindungslos, abgehärtet gegenüber der Welt? Bei der Empathie, der Achtung, die der Autor seinem Protagonisten entgegenbringt, verblassen diese Fragen - sie erweisen sich diesem Leben gegenüber schlicht als unangemessen.

Den späten Herbst kannst Du in mir besehen:

Die letzten gelben Blätter eingegangen
An Zweigen, die dem Frost kaum widerstehen,

Und Chorruinen, wo einst Vögel sangen.

In mir siehst Du den späten Tag sich neigen,

Das Dunkel in die graue Dämmrung dringen,

Die Nacht mit ihrer Schwärze langsam steigen

Und Todes Bruder, Schlaf, die Welt umschlingen.

In mir siehst Du die Glut von alten Bränden,

Gebettet auf die Asche bessrer Zeiten -

Ein Sterbelager, wo sie muss verenden,

Verzehrt vom Brennstoff eigner Lustbarkeiten.

Siehst Du all dies, wird's Deine Liebe steigern:

Denn was Du liebst, wird Tod Dir bald verweigern.

(quelle: William Shakespeare: Sonett 73)

Liebe und Verlust, Hoffnung und Niederlage sind im Leben von William Stoner aufs Engste miteinander verbunden. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Dass dieser sich nie auflehnt, sondern alles, was ihm geschieht, begegnet, an- und hinnimmt, kann man ihm zum Vorwurf machen. Mir allerdings nötigt dies eher größten Respekt, Sympathie, Zuneigung ab.

Wie Stoner seine kleine Tochter umsorgt, die lange Zeit das einzig glückliche Ergebnis seiner glücklosen Ehe zu sein scheint, zeugt von geradezu grenzenloser Zärtlichkeit und Liebe (und zählt zu den berührendsten Seiten dieses bewegenden Romans). Diese Liebe endet auch nicht, als das Leben der Tochter unglückliche, tragische Wendungen nimmt. Stoner wendet sich nicht ab, er versucht nicht zu ändern - er bleibt für sie da. Stoner ist kein Held, vollbringt keine Meisterwerke, feiert keine Siege - man fühlt sich ein wenig an Bertolt Brechts Galilei erinnert: "Unglücklich das Land, das Helden nötig hat."

In seinem dreiundvierzigsten Jahr erfuhr William Stoner, was andere, oft weit jüngere Menschen vor ihm erfahren hatten: dass nämlich jene Person, die man zu Beginn liebt, nicht jene Person ist, die man am Ende liebt, und dass Liebe kein Ziel, sondern der Beginn eines Prozesses ist, durch den ein Mensch versucht, einen anderen kennenzulernen.

John Williams: Stoner. Erstveröffentlichung 1965. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Deutsche Erstausgabe im Deutschen Taschenbuchverlag 2013