Die Träume anderer Leute

Judith Holofernes: Die Träume anderer Leute. Kiepenheuer & Witsch 2022

Um es vorweg zu sagen: Ich war nie ein Fan von Wir sind Helden, ja weniger als das: Ich konnte mit den Hits der Band, um die man in den Nullerjahren ja kaum herumkam, wenig anfangen. Vielleicht habe ich auch einfach nicht richtig hingehört.

Nun hat Judith Holofernes, die Sängerin der seit 2012 "pausierenden" Helden, ein Buch veröffentlicht, indem sie über die letzten Jahre mit der Band und vor allem die Zeit danach schreibt. Ein Buch, das mich so unerwartet getroffen, berührt, begeistert und inspiriert hat, dass ich nicht anders konnte, als auch gleich in die Musik von Judith Holofernes abzutauchen.

Ich kenne kein aufrichtigeres Buch über die Abgründe des "Pop-Star-", in diesem Fall des "Judith-Holofernes-" Seins, und die Schattenseiten des Musik-Business – vor allem aber ist Die Träume anderer Leute die sehr persönliche Geschichte einer Frau, die auszog, die eigenen Träume zu leben und darüber das Fürchten lernte. Ganz ohne Nabelschau, dafür mit viel Witz und einem manchmal erschreckenden Maß an Ehrlichkeit. Respekt.

Das Buch setzt 2010 ein: Tour mit Wir sind Helden, Festivalauftritte, die kleinen Kinder immer mit dabei, die eigenen Grenzen schon lange überschritten, nervlich wie physisch. Viele Lieder der Band sind eigentlich Protestsongs gegen die Selbstausbeutung, den Optimierungswahn, das pausenlose Funktionieren. So basisdemokratisch und liebenswert kreativ-chaotisch die Helden auch sein mögen: sie sind längst Teil einer Maschine, die sie in ihren Liedern so oft parodieren.

"Ich wollte mein Leben zurück",

sagt Holofernes: Der "Kontrast zwischen meinen Texten und all der Selbstausbeutung" erschien ihr immer "zynischer". Helden-Ende. Kreativpause. Neuanfang.

Und tatsächlich: schon bald beginnt die in Berlin lebende Musikerin, an neuen Projekten zu feilen. Es entsteht das 2014 erschienene Solo-Debüt "Ein leichtes Schwert" (das nun seit einigen Tagen hier in Dauer-Rotation läuft). Es ist ein Herzensprojekt und klingt auch heute, fast 10 Jahre später, erstaunlich unverbraucht und unkonventionell für am deutschen Pop geschulte Hörgewohnheiten.

Als "die von Wir sind Helden" bekommt Holofernes einen Major-Deal bei der Sony und realisiert zu spät, dass an dem Deal etwas nicht stimmt:

"Die Plattenfirma investiert einen Haufen Geld und Arbeit, um die Künstlerin bis in den hintersten Winkel der Republik sichtbar zu machen. Die Künstlerin verpflichtet sich im Gegenzug, diesen Aufwand wert zu sein. Sie verspricht, zumindest für die Laufzeit des Vertrags, ein Produkt zu sein, eins, das sich zu vermarkten lohnt. Schwierig wird es, wenn sich das Produkt gar nicht mehr so sicher ist."

Nein: "Die von Wir sind Helden" ist kein Produkt mehr, das sich einfach so vermarkten lässt. Das Album floppt (zumindest kommerziell). Und mittels vieler Einblicke in die Praxis des Musikgeschäfts schildert Judith Holofernes, wie eng und anstrengend und aufreibend sich der Kampf um künstlerische Autonomie rund um Album und Tour erwies. "Alles, was neu war an mir", so schreibt sie, war "unter kommerziellen Gesichtspunkten ein Flop".

Doch da ist nicht nur die Künstlerin, die sich weniger um Formate, sondern mehr um die eigene lustvolle Kreativität und die Zusammenarbeit mit unterschiedlichsten Musiker*innen kümmert, da ist auch noch die Frau, die Mutter, die Privatperson. Wie schon am Ende der Helden-Zeit spitzen sich die Konflikte und die Überschreitungen wieder zu – und Judith Holofernes dreht eine zweite Runde auf der Suche nach ihrer eigenen Freiheit, ihrem Leben.

Tausche Kunst gegen gutes Leben

"Schläfst du anderer Leute Schlaf
Zählst du anderer Leute Schaf
Bist du des Wahnsinns nette Beute
Träumst die Träume anderer Leute"

Es ist diese zweite, noch schmerzvollere Dimension, die Holofernes ebenso offen schildert: Wie war das mit der Selbstverwirklichung? Was ist eigentlich Freiheit? Was tue ich mit meinen beschränkten Kräften und meiner beschränkten Zeit? Wieso scheitern wir an den vermeintlichen Doppelbelastungen, die sich zwischen Arbeit und Freizeit, Familie, Kindern, Partner auftun? Wer ist eigentlich schuld daran? Worum geht es in diesem Leben? Und wohin will, wohin kann ich mit mir in dieser chaotischen Welt? Alles Fragen, um die es hier "ganz nebenbei" auch noch geht. Und die Die Träume anderer Leute zu einer manchmal schmerzvollen, aber aufrüttelnden Lektüre machen.

"Ich bin inzwischen überzeugt, dass die einzige Rettung darin liegt, zu möglichst großer emotionaler Freiheit zu kommen. Immer weniger Panzer zu brauchen gegen die Bescheuertheit der Welt."

Holofernes bricht nicht nur einmal zusammen. Der Tiefpunkt ist irgendwann eine Hirnhautentzündung, die sie monatelang ans Bett fesselt. Aber sie lernt – und wird kompromissloser. Ein zweites Album kommt auf den Markt ("Ich bin das Chaos"), aber irgendwann zwischendurch trennt sich die Musikerin von ihrem Management und beginnt, neue Wege zu beschreiten. Ihr Buch schildert den langen Weg zu der Entscheidung, die sie heute zufrieden, glücklich und unabhängig arbeiten lässt: das Crowdfunding mit Hilfe der Plattform Patreon. Sie steht nun in einem engen Kontakt mit ihren Fans, die sie durch einen kleinen monatlichen Betrag unterstützen.

"Es geht nicht darum, milde Sympathien in möglichst vielen Leuten zu wecken, sondern es geht darum, die Leute zu finden, die das, was ich mache, wirklich lieben."

Liebe Judith Holofernes: Sie haben einen neuen Fan.