Slaughter, Karin
"Wenn man so etwas schreibt, sollte man nicht Slaughter mit Nachnamen heißen," sagt meine Frau scherzhaft – und recht hat sie. Immerhin schreibt Karin Slaughter Thriller, die dir den Schlaf rauben und den Atem nehmen. Ca. 25 Romane und unzählige Bände mit Kurzgeschichten hat sie in den letzten zwanzig Jahren veröffentlicht – die drei neuesten habe ich in den letzten Wochen verschlungen. Widerstand zwecklos: Karin Slaughter versteht es, eine gewitzte Dramaturgie voller unvorhersehbarer Wendungen mit psychologischer Raffinesse und schonungsloser Darstellung von Gewalt zu verbinden. Dass man über diesen Romanen müde wird – undenkbar.
Die falsche Zeugin
Betrachte ich die drei nun gelesenen Romane aus den Jahren 2018 bis 2021, fallen zwei Konfliktlinien auf, die alle Bücher verbindet: alle drei Romane zeigen Frauen, die sich gegen in der Regel männliche Gewalt behaupten müssen - und das in gesellschaftlichen Strukturen, die oftmals die Position des vermeintlich "starken Geschlechts" noch stärken. Und alle drei Romane wandern dazu zwischen der Gegenwart und den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hin und her – wohl auch um zu zeigen, was sich in dieser Hinsicht verändert bzw. gar nicht so sehr verändert hat.
Dabei stellen schon die Eröffnungskapitel erzählerische Meisterwerke dar. Etwa in Die falsche Zeugin (False Witness, 2021). Eine junge Frau entdeckt, dass ihr Liebhaber eine Kamera positioniert hat, um sie beim Sex zu filmen. Ganz langsam eskaliert die Situation, und Slaughter zeichnet die Entwicklung bis zum Unvermeidbaren mit unerträglicher Langsamkeit nach. Irgendwann geht er, Buddy Waleski, auf sie, Callie, los. Und sie ersticht ihn in Notwehr. Das Geschehen ist lange her, als die Erzählhandlung einsetzt, und holt die Beteiligten auf grausame Weise ein.
Wir erfahren: Callie, die junge Frau, arbeitet zum Tatzeitpunkt als Babysitterin für Waleski und ist selbst noch ein Kind. Sie wird von ihm nicht nur misshandelt und sexuell missbraucht – er verkauft noch dazu die ohne ihr Wissen aufgenommenen Videos. Ihre Schwester, Leigh, hilft bei der Ausführung des scheinbar perfekten Mordes. Waleski verschwindet spurlos. Doch diese Nacht wird die beiden Schwestern ihr Leben lang verfolgen.
Jahrzehnte später, inmitten der Corona-Pandemie, muss Leigh erkennen, dass es jemanden gibt, der jeden Augenblick ihres Verbrechens kennt: Waleskis Sohn, selbst der mehrfachen, brutalen Vergewaltigung angeklagt. Und Leigh, recht erfolgreiche Anwältin, soll ihn verteidigen ...
"Über soziale Themen zu schreiben und gleichzeitig das vorandrängende Tempo eines Thrillers beizubehalten ist immer ein heikler Balanceakt,"
schreibt Slaughter im Nachwort. Nicht nur in diesem besonders verstörenden Fall ist ihr das gelungen.
Ein Teil von ihr
Oder der Beginn von Ein Teil von ihr (Pieces of Her, 2018). Über Seiten zieht sich das Gespräch zwischen Andrea Oliver und ihrer Mutter Laura in einem x-beliebigen Diner – da bremst Slaughter das Erzähltempo plötzlich radikal und schildert in Zeitlupe den Anschlag, der Andys Leben komplett verändern wird. Am Ende des Kapitels hat die Mutter mit größter Effizienz einen Amokläufer getötet – und Andy mit zahllosen Rätseln zurückgelassen. Denn wer ist eigentlich ihre Mutter? Wieso beherrscht sie so kaltblütig das Handwerk des Tötens? Und warum sind alle hinter Andy her, die sich nun auf eine Flucht quer durch die USA begibt?
Auch hier führt Slaughter die Leser*innen in die 1980er Jahre zurück. Eine terroristische Zelle plant in ganz Amerika Anschläge. Kopf der Gruppe ist ein gewisser Nicolas Harp – doch auch Laura, die Mutter der jungen Andrea spielt eine Rolle in dem Kollektiv. Und zwar, wie sich herausstellt, eine recht umstrittene. Laura, die ursprünglich Jane heißt, verschwindet, so viel sei verraten, im Zeugenschutzprogramm der US Marshals, während die Terrorgruppe auffliegt. Die Vergangenheit scheint begraben und versteckt - bis zu dem Moment, als durch den Anschlag im Diner die Maskerade Risse bekommt.
Ein Teil von ihr ist Roadmovie, Gangsterdrama und Coming of Age Geschichte zu gleichen Teilen: Slaughter fragt nach den Strukturen und Manipulationen, die politischen Terrorismus und Sektierertum begünstigen – und gleichzeitig schildert sie den schmerzvollen Weg aus der sicher geglaubten familiären Identität hin zum eigenen Ich.
Die Vergessene
"Ich habe es gründlich satt, dass Leute – Männer – mir sagen, was ich tun soll."
Aus den gleichen Zutaten ist auch die neueste Veröffentlichung von Karin Slaughter gemixt. Die Vergessene (Girl, forgotten, 2022) erzählt die Geschichte von Andrea Oliver weiter, nachdem Nicolas Harp, der Terrorist und Psychopath, im Gefängnis verschwunden ist. Oliver hat eine Ausbildung zum US Marshal hinter sich gebracht und kommt für ihren ersten Job in die Kleinstadt Longbill Beach. Offiziell soll sie zusammen mit ihrem Partner eine Richterin beschützen, die Morddrohungen erhalten hat. Eigentlich aber ist sie hinter einem vierzig Jahre alten Fall her, den sie lösen soll, damit jener Nicolas Harp nicht vorzeitig aus der Haft entlassen werden kann.
Noch einmal als zurück in die 1980er. Harp heißt damals noch Clayton Morrow und hat auf der High School eine kleine, verschworene Clique um sich geschart. Auf einer Party gibt es Drogen, und ein Mädchen aus der Clique wird vergewaltigt. Als sie feststellt, dass sie schwanger ist, macht sie sich auf die Suche nach dem Vater – doch im rauhen Klima der 1980er Jahre, umgeben von Vorwürfen, Heuchelei und konservativ geprägter Bigotterie, findet sie sich bald als Ausgestoßene wieder. Am Abend des Abschlussballs wird sie ermordet. Ist Clayton Morrow der Täter, der spätere Terrorist Nicolas Harp?
Auch hier ist es frappierend, welcher strukturellen Gewalt Frauen ausgesetzt sind, die sich zu behaupten versuchen. Diese Diagnose gilt sicherlich für die 1980er Jahre weitaus stärker - doch auch in der Gegenwart kämpfen Frauen gegen toxische, und immer noch zu oft tödliche Männlichkeit. Wie der Fall von damals mit den Morddrohungen an die Richterin (Mutter der "vergessenen" Teenagerin) und einer von zwei Männern beherrschten Sekte zusammenhängt, muss Andrea Oliver (und mit ihr die Leser*innen) Seite um Seite mühsam offenlegen. Eine gelungene, spannende Krimikonstruktion sorgt für Überraschungen bis fast zur letzten Seite – und für einige erschreckende Blicke in menschliche Abgründe.