Nacht über Soho

“Liebe Mutter. Ich bin nach London weggelaufen, um mein … Glück zu suchen. Ich werde auf der Bühne tanzen.“

London in den Roaring Twenties: eine Stadt voller Versprechen aber auch voller Versehrter. Der 1. Weltkrieg liegt nur ein paar Jahre zurück, eine dünne Schicht Zuversicht über den Erschütterungen. Jeder hat jemanden verloren, jeder sucht sein Glück.

So auch Freda aus York, die ihre Freundin Florence überredet hat, nach London „abzuhauen“. Schnell entpuppt sich das Abenteuer als Wagnis und die Suche nach dem Glück als gefährliches Unterfangen. Eine heruntergekommene Pension, Taschendiebe, der Termin zum Vortanzen, der in einer Vergewaltigung endet. Und überall in London verschwinden Mädchen.

Kate Atkinson: Nacht über Soho. Aus dem Englischen von Annette Grube. DuMont Buchverlag 2025

„Nachts im Viertel des Lasters“, so soll eine Artikelserie heißen, die Detective Chief Inspector John Frobisher für eine Londoner Zeitung schreiben soll: auch ein passender Titel für Nacht über Soho von Kate Atkinson. Denn im Zentrum von Soho sitzt wie eine Spinne in ihrem Netz Nellie Coker, die ein ganzes Imperium aus Nachtclubs ihr eigen nennt. Doch ihre Macht ist erschüttert, Polizei und Konkurrenz sind ihr auf den Fersen, und auch ihre eigene – große – Familie steht nicht mehr verlässlich an ihrer Seite. The times, they are a changin‘…

“Mädchen wie Freda sind Frischfleisch für die Nellie Cokers dieser Welt. Sie verschlingen sie.“

Kate Atkinson hat gut recherchiert für ihren stimmungsvollen Roman – weniger in historischen Abhandlungen, wie sie schreibt, als vielmehr in Unterhaltungsliteratur. Ihre Nellie Coker hat in Kate Meyrick ein reales Vorbild: der „Königin der Clublandschaft von Soho“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit vielen Details und Anspielungen gelingt es Atkinson eindrucksvoll, ein Bild der Zwischenkriegsjahres entstehen zu lassen: von der verheißungsvollen Großstadt und ihren Abgründen, von der Sehnsucht nach Normalität und Glück und den Ängsten der Menschen. Wie ein Gespenst geistert immer wieder unvermittelt der Krieg durchs Bild.

Gleichzeitig aber funktioniert Nacht über Soho wie eine boulevardeske Klipp-Klapp-Komödie im Fieberwahn. London (Soho) erscheint wie ein Dorf, in dem jeder jedem auf der Spur ist – sobald der eine den Raum verlässt, hat der nächste seinen Auftritt. Jeder verfolgt dabei eigene Interessen – und wird wiederum von anderen verfolgt, beschattet, gesucht. Spätestens als die von Inspector Frobisher angeheuerte Gwendolen Kelling (die eigentlich auf der Suche nach Freda und Florence ist) von Nellie Coker als Managerin eines ihrer Clubs eingesetzt wird, während Freda in einem anderen ihrer Clubs landet, bangt man darum, wann und unter welchen Umständen all diese Figuren aufeinandertreffen werden. Und lässt sich bereitwillig ein auf diese Zeitreise in das zwielichtige London vor 100 Jahren.