Von hier an anders!

Mitte der 1990er Jahre. Im Biologieunterricht erörtern wir die Gefahren des Rauchens, und in Geographie sprechen wir über den Klimawandel. Ich bin 16. Raucherbeine und Lungenkrebs machen mir Angst. Ich schwöre mir, nie zu rauchen – wie könnte ich so dumm sein! (Und fange zwei Jahre später mit dem Rauchen an.) Die Sache mit dem Klima klingt bedrohlich, aber irgendwie ganz schön weit weg. Wie eine Science-Fiction-Story, die man gelesen haben sollte, wenn man zu den Klügeren gehören will. Ein bisschen Angst macht mir das schon, aber ich denke: Wird schon nicht so schlimm werden.

Deutschland 2050 – schon 202x?

Toralf Staud, Nick Reimer: Deutschland 2050. Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird. Kiepeneuer & Witsch 2021

Nun, 25 Jahre später muss man wohl konstatieren: Vielleicht wird es noch schlimmer. Und es ist schon schlimm genug. Während ich den Sommer über lese, wie der Klimawandel unser Leben verändern wird, hat die Wirklichkeit das entsprechende Buch schon längst eingeholt. Was laut Nick Reimer und Toralf Staud das Leben in Deutschland 2050 prägen wird, trifft teilweise schon jetzt ein – oder mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr viel früher, wie die Wissenschaft mittlerweile weiß. Der Klimawandel ist da. Schon jetzt. Mag also sein, dass Reimer und Staud mit ihren ziemlich beängstigenden Erkenntnissen noch fast zu optimistisch sind – es lohnt dennoch, ihr Buch zu lesen. Schon allein, um noch einmal klar zu bekommen, wie niemand von uns wird leben wollen. Und was es eigentlich bedeutet, wenn es wärmer wird.

Dieses Buch schildert, wie ein Deutschland aussieht, das gegenüber vorindustriellem Niveau rund zwei Grad Celsius wärmer ist. Gelegentlich schauen wir auch auf Verhältnisse, die bei ungebremsten Emissionen drohen – vier Grad mehr (oder gar noch höhere Werte), das würde alles ändern. Strenger Klimaschutz rettet also zumindest noch etwas Stabilität. Man könnte sagen, er sichert unser Zuhause, unser Eigentum, unsere Städte. Oder noch kürzer: Klimaschutz bewahrt Heimat.

Die beiden Journalisten haben umfassend rechierchiert und beschreiben detailliert die Konsequenzen, die die zu erwartende Erderwärmung für unser Leben, unsere Arbeit, unsere Gesellschaft haben wird. Die Auswirkungen der Hitze auf unsere Gesundheit. Das Artensterben. Neue Krankheiten. Starkregen und Dürre. Das Waldsterben, das längst im Gange ist. Das Leben in zu heißen Städten. Der Anstieg des Meeresspiegels. Die wachsende Anfälligkeit der Infrastrukturen (Verkehr, Strom, Wirtschaft). Die Herausforderungen für den Katastrophenschutz. Der zunehmende Stress in der Landwirtschaft. Der Wandel des Tourismus. Die Flüchtlingsströme der Zukunft.

Wer wissen möchte vor welchen Herausforderungen wir stehen, was wir abwenden müssen (und vielleicht gerade noch so können), und was unausweichlich auf uns zukommt, der kommt um dieses Buch kaum herum. An den Schluss ihres Buches setzen Reimer und Staud ein Interview mit dem Soziologen Ortwin Renn zu den politischen und gesellschaftlichen Implikationen der Klimakrise. "Der Klimawandel passt nicht zur menschlichen Intuition", so Renn:

Die Leute sagen halt: wenn es wirklich so schlimm kommt, kann man sich ja immer noch drum kümmern. Dass das nicht stimmt, ist sehr, sehr schwer vermittelbar.

Noch haben wir die Wahl?

Luisa Neubauer, Bernd Ulrich: Noch haben wir die Wahl. Ein Gespräch über Freiheit, Ökologie und den Konflikt der Generationen. Klett-Cotta 2021

Da ist es nicht verwunderlich, dass die Klimakrise noch immer viel zu wenig im Bewusstsein der Bevölkerung angekommen ist. Die Inhaltslosigkeit des diesjährigen Bundestagswahlkampfs spricht Bände. Wenn ich sehe, dass laut MDR-Umfrage der Klimawandel nur für 22% der Sachsen das größte Problem ist (wohingegen 27% die Zuwanderung nennen!), steigt bei mir die Verzweiflung. Als wäre nicht schon längst zu viel Zeit ins Land gegangen, als müsste man nicht schon längst große Angst zumindest um die Zukunft der eigenen Kinder haben! Als würde einen nicht regelmäßig das aussichtlose Gefühl befallen, dass wir einfach nicht mehr zu retten sind.

 

 

Noch haben wir die Wahl, sagen indes Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der ZEIT, und Luisa Neubauer, die hierzulande als Gesicht von Fridays For Future bekannt ist. Zwei Generationen, verschiedene gesellschaftliche Hintergründe, ein großes Thema: in 17 Kapiteln dokumentiert ihr gemeinsames Buch ein langes Gespräch über die Klimakrise und die sich daraus ergebenden Herausforderungen für ihre Gesellschaft. Noch ein Buch über das Klima, betont subjektiv, mit viel Raum für persönliche Geschichten und gut informierte Gesellschaftsanalyse. Dabei ist die Idee hinter der Gesprächsform ja eine gute: Dialog bedeute, so schreiben die beiden,

sich gegenseitig beim Denken zu helfen, sich streitend fortzubewegen, eine Art Provisorium des Fundamentalen zu schaffen. Denn auf vielfältige Weise fundamental ist dieses Jahr ohne Frage.

Ulrich und Neubauer vertreten dank ihrer unterschiedlichen (und unterschliedlich langen) Lebensgeschichte auch mal verschiedene Positionen, ja, sie lassen es auch an gegenseitiger Kritik und Vorwürfen nicht mangeln; allerdings ist der Konsens zwischen beiden schon recht groß. Der Dialog hätte evtl. an Spannung (und auch an Repräsentativität) gewonnen, wenn die Positionen der Gesprächspartnerinnen weiter auseinandergelegen hätten. So ist dieses Gespräch über Freiheit, Ökologie und den Konflikt der Generationen schon sehr entspannt – entspannter, als es vielleicht der Konflikt der in der Bevölkerung wirklich ist.

Robert Habeck: Von hier an anders. Eine politische Skizze. Kiepenheuer & Witsch 2021

Ganz deutlich und einstimmig lassen die beiden Autor*innen jedoch keinen Zweifel daran: sie sehen dieses Jahr als – vielleicht zu spätes – Jahr der Entscheidung, in dem wir ökologisierte Rhetorik (wir alle sind Klimaschützer) und Klimaschutz als Frage des Lebensstils hinterlassen – und ins Handeln kommen. Haben wir noch die Wahl? Eine klar positive Antwort habe ich in diesem Gespräch nicht finden können.

Von hier an anders!

Mitten in der Corona-Krise hat Robert Habeck das Buch geschrieben, mit dem er sich irgendwie, na klar, für den Job des Kanzlerkandidaten beworben hat – weit bevor Annalena Baerbock den Job dann bekam. Ein "persönliches Buch über ein politisches Problem", so schreibt er. Habeck fragt sich:

Wie findet eine Gesellschaft unter den Bedingungen von Freiheit und Demokratie zu einer Gemeinsamkeit, die es ihr ermöglicht, die notwendigen großen Schritte zu gehen? Und welches sind die Kräfte und Dynamiken, die Lösungen und gemeinsamen Fortschritt immer wieder blockieren?

Und will, so führt er aus, Von hier an anders nicht nur den Inhalt der Politik sondern die Art, wie Politik mit den Bürger*innen zusammenarbeitet, kommuniziert, zu Entscheidungen findet, verändern. Robert Habeck gibt in seinen dicht formulierten Reflexionen und auf Basis vieler persönlicher Erfahrungen ein Gefühl davon, was es heißt, über sich hinaus zu wachsen. Politik und Gesellschaft, die anders sein können, als sie es waren und sind. Genau das wäre notwendig.

Dazu – und für all das, was schon die nahe Zukunft an Zumutungen für uns bereithält – wird es nicht ausreichen, alle paar Jahre wählen zu gehen. Zu Von hier an anders! gibt es schon jetzt eigentlich keine Alternative. Ein Anfang aber, und im besten Fall ein Zeugnis der in Gang gekommenen Veränderung, ist diese Bundestagswahl in jedem Fall. Lasst uns wählen gehen.