Die Hauptstadt

Kann man das erzählen? Kann man EU erzählen?

Ich gebe zu, diese von Robert Menasse selbst gestellte Frage hielt mich lange davon ab, seinen Roman Die Hauptstadt – inzwischen mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet – zu lesen. Allein der Titel! Das riecht doch förmlich nach Bürokratie, Anzugträgern, Aktenbergen – kurz: trockenster politischer Materie! Allerdings, das kann ich nach Vollzug der Lektüre melden, haben mir da die eigenen Vorurteile und Scheuklappen – oder auch Vorlieben und Abneigungen – gehörig ein Bein gestellt. Ich halte mich keineswegs für unpolitisch – aber zugegebenermaßen gibt es Themen, die ich spannender finde als andere.

Von wegen: Politik sei dröge und farblos, Europa abstrakt und die Auseinandersetzung nicht wert.

Robert Menasse kann von der EU und den Beamten der Europäischen Kommission nicht nur gut, ja mitreißend, erzählen – Die Hauptstadt ist fesselnd, witzig und rasant – ihm gelingt es mit dem zu Recht ausgezeichneten Roman überdies, das Spannungsfeld zwischen europäischer Idee und europäischer Realität in all seiner Dringlichkeit zu beleuchten.

Allein der Prolog: Ein Schwein läuft durch die Innenstadt Brüssels. Auf seinem Weg verbindet es nahezu alle Hauptfiguren des Romans, denn diese halten sich – Zufalls- oder Schicksalsgemeinschaft? – just in diesem Augenblick in dem Viertel rund um die Place Saint-Catherine auf. Menasse braucht ganze fünf Seiten, um jede einzelne seiner Figuren vorzustellen.

Der Holocaust-Überlebende David de Vriend zieht aus seiner zentral gelegenen Wohnung in ein Altenheim, die zypriotische Griechin Fenia Xenopoulou, in der Europäischen Kommission für die "Kultur" zuständig (unfreiwillig zwar aber, notgedrungen, engagiert), wartet auf den Deutschen Kai-Uwe Frigge, mit dem sie berufliche wie private Affairen verbinden. Währenddessen flüchtet ein polnischer Katholik vom Ort eines Verbrechens, das ihn im Laufe des Romans bis weit in die Heimat verfolgen wird. Und da ist noch der schwermütige Österreicher Martin Susman, der den Pistolenschuss aus dem benachbarten Hotel hört und etwas sieht, das aussieht wie ein Schwein – was ihm wiederum wie ein Spiegel seiner Familiengeschichte erscheint, einer Geschichte, die von Schlachthöfen, einem schrecklichen Todesfall und der schwierigen Beziehung zu seinem Bruder (immerhin Präsident der "European Pig Producers") geprägt ist. Zuletzt wäre da auch noch Professor Alois Erhart, der zur Tagung eines Think Tanks nach Brüssel gekommen ist, sich aber über weite Teile des Romans – bis hin zu seinem finalen Befreiungsschlag – vor allem ärgert,

weil ihm das alles so furchtbar auf die Nerven ging, dieses wichtigtuerische Trolley-Rollen in Brüssel, dieses bedeutsame Eilen zu Meetings, dieses Beantworten von Floskeln, die raunende Transformation von keinen Ideen in ein babylonisches Kauderwelsch ...

"Zusammenhänge müssen nicht wirklich bestehen, aber ohne sie würde alles zerfallen."

Auf den nächsten 450 Seiten taucht Menasse mit viel Witz und großer Empathie tief in das "Eurokraten-Biotop" am Sitz der europäischen Kommission ein. Natürlich kreisen die Gedanken vieler seiner Figuren um Karriere, Aufstiegschancen, Erfolgsaussichten. Wie nicht anders zu erwarten, streiten Kultur und Wirtschaft miteinander, und – wie nicht anders zu erwarten – zieht die Kultur meist den Kürzeren. Menasse deckt, und das ist keineswegs nur Verzierung der politischen Thematik, immer wieder die absurden Seiten des EU-Alltags auf, sei es die "EU-Cycling-Group", in der die EU-Kommissare wie in einem rollenden Selbstmord-Kommando in die Büros radeln, oder die gemeinsamen Rauchpausen unter den abgeklebten Rauchmeldern, die im Laufe der Handlung zu Krisenbewältigungssitzungen mutieren – mit sich entsprechend potenzierender Häufigkeit.

Nein: Menasse beschreibt, wie die ja oft als so fern und abstrakt erlebte europäische Politik eben nicht von einer Maschine und geheimnisumwobenenen Kräften gemacht wird, sondern von Menschen mit ziemlich alltäglichen Wehwehchen, einigen Spleens und gleichermaßen einfachen wie hehren Beweggründen. Die einzelnen Egos, die Kämpfe um jede Sprosse auf der Karriereleiter, die jeweils individuelle Geschichte und sich daraus ergebende Interessen stehen vielleicht (wahrscheinlich) nicht immer im Einklang mit der "europäischen Idee" – doch sind sie eben kein Betriebsunfall, sondern die Normalität Europas. Und vielleicht auch das größte Kapital, die einzige Chance der Union.

So entsteht ein Bild des Lebens und Arbeitens in der europäischen Hauptstadt, das in der ganz konkreten Vielstimmigkeit eine Idee aufscheinen lässt, wie das mit der EU doch noch etwas werden kann.

Der Algorithmus, der alles Mögliche filtert und auch das bisher Erzählte geordnet hat, ist natürlich verrückt – vor allem aber ist er beruhigend: Die Welt ist Konfetti, aber durch ihn erleben wir sie als Mosaik,

räumt der Erzähler auf Seite 100 ein. Europa als das Projekt von Menschen, die bei aller Verschiedenheit um den Sinn dieses Projektes kämpfen: das ist die eine Seite, die Menasse zeigt. Die andere ist die ganz unverhohlene – nach den Wahlen in Österreich und Deutschland umso dringlichere – Warnung: Europa hat keine Zukunft als bloße Wirtschaftsgemeinschaft. Europa ist eine Idee, Ergebnis einer Geschichte, aufzuladen mit einem Sinn, der über die bloße Gegenwart hinausgeht, und angewiesen auf den Idealismus seiner Politiker und Bewohner.

"Wenn etwas zerfällt, muss es Zusammenhänge gegeben haben",

heißt denn auch die Überschrift des letzten Kapitels. Im Kampf zwischen Idee und Realität, Vergangenheit und Zukunft zeigt Menasse die Arbeit am Projekt Europa als Alltag ganz verschiedener Menschen. Es ist ein Kampf gegen den Zerfall. Dem Roman vorangestellt ist ein Zitat Victor Hugos:

Rêver, c'est le bonheur; attendre, c'est la vie.

Träumer finden sich in der "Hauptstadt" nur selten. Doch jede der Figuren in diesem Roman wartet auf etwas. Zum Glück.

Robert Menasse: Die Hauptstadt. Suhrkamp 2017

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