Umlaufbahnen
Das Schöne an diesem dünnen Roman, für den Samantha Harvey 2024 den Booker Prize erhalten hat, ist, dass er sich vortrefflich in Schleife lesen lässt: einmal am Ende der 220 Seiten angekommen, beginnt man einfach noch einmal von vorn. Das bietet sich nicht nur wegen des schmalen Umfangs an. Nein: exakt 24 Stunden, einen Tag, folgt die britische Autorin den Umlaufbahnen der Internationalen Raumstation um die Erde. Es ist nicht so, dass in diesen 24 Stunden nichts passieren würde – doch das meiste davon lässt sich, zumindest aus der Perspektive vom Weltall aus, als wiederkehrend vorstellen. Gut denkbar, dass die Tage dort oben einander gleichen, ohne dass deswegen Langeweile herrscht.
“Der Weltraum zerschreddert die Zeit.“
Ein Tag im Leben von vier Astronaut*innen (aus Amerika, Japan, Großbritannien, Italien) und zwei Kosmonauten (Russland): das macht sechzehn Erdumkreisungen, Sonnenauf- und -untergänge, Tag- und Nachtwechsel im 90-Minuten-Rhythmus. Allein diese völlig andere Zeitwahrnehmung macht Harveys Roman zu einem Erlebnis. Wie ist das, innerhalb von 24 Stunden sechzehn Tage und Nächte zu erleben? Was macht das mit der Wahrnehmung, wenn die Kontinente im Überfliegen zusammenrücken, der Abstand zwischen Herbst und Frühling, zwischen Gletscher und Wüste schmilzt? Wenn die Nacht binnen Sekunden vom Tag „ausgelöscht“ wird – und die Dunkelheit kurz darauf das Licht einholt?
Samantha Harvey erzählt, dass sie während des Schreibens nicht wusste, ob sie das darf: von einer Erfahrung erzählen, die sie selbst nicht gemacht hat. Manchmal schimmert in ihren Umlaufbahnen noch etwas durch von dieser Bewunderung und Faszination aus der Ferne, von den überwältigenden Informationen und Eindrücken aus Youtube-Streams und Literatur. Doch in der, wie sie es nennt, „fluiden“ Erzählform, die sie gefunden hat, verdichtet sich all das zu einer ungeheuer poetischen, liebevollen Meditation über die Menschen und ihre Heimat, die Erde.
“Bei ihrem Blick auf die Erde verstehen sie, warum man sie auch Mutter Erde nennt. Von Zeit zu Zeit spüren sie es alle, stellen diese Verbindung zwischen der Erde und einer Mutter her und werden somit selbst zu Kindern.“
Das fluide, schwerelos anmutende Erzählen von Samantha Harvey, ein freier Wechsel zwischen verschiedensten Stilen und Perspektiven, sorgt für den eigentümlichen Schwebezustand während der Lektüre (noch ein Grund, warum ich das Büchlein am Ende ungern aus der Hand legen wollte). Da sind die Gedanken und Erinnerungen der sechs Menschen, da sind kleine Alltagsszenen und existentielle Dramen: eine Mutter stirbt, während sich auf der anderen Seite der Welt ganz langsam ein Taifun entwickelt, Inseln überflutet werden. Und immer wieder der Blick aus den Bordfenstern auf die vor dem Raumschiff fliehende Welt:
“Sie sind Menschen mit einem göttlichen Ausblick, und das ist Segen und Fluch zugleich.“
In Zeiten wie diesen, wo der Kampf gegen den Klimawandel an allen Orten behindert, verlangsamt, gar zurückgedreht wird, ist Umlaufbahnen ein schmerzhaft schönes und genau deshalb ungemein politisches Buch. Nicht nur für die sechs auf der ISS gilt: „Ohne die Erde sind wir alle erledigt.“ So zärtlich, wie unser Heimatplanet während dieser sechzehn Umrundungen betrachtet wird, wächst das Verlangen, ihn zu beschützen. Und dann spielt Harvey die Geschichte des Universums seit dem Urknall durch, in der der Mensch für eine verschwindend kleine Zeitspanne auftritt und man denkt sich: vielleicht ist das ganz gut so. "Wir sind vom Wind aufgewirbeltes Laub. Wir denken, wir wären der Wind, aber wir sind nur die Blätter.“