Herkunft

Ich bin einem Land geboren, das es nicht mehr gibt.

Hoyerswerda, 1978

Das Land hieß DDR, man schrieb das Jahr 1978. Meine Eltern hatten noch vor meiner Geburt stolz eine Wohnung in einem der Plattenbauten bezogen, die man unter dem Namen WBS 70 gerade neu in den trockenen Boden des Lausitzer Kohlereviers gesetzt hatte. Es war die Zeit, als sich die gesamte Familie am 1. Mai in Omas zentral gelegener Wohnung zum Essen traf, mit Ausblick auf den Demonstrationszug auf der Magistrale. Mit vor Stolz geschwellter Brust bekam ich am 13. Dezember 1986 ein blaues Halstuch umgehängt, war fortan Jung- und bald Thälmannpionier und besuchte ehrgeizig die "Polytechnische Oberschule mit Erweitertem Russisch-Unterricht".

Meine Jugendzeit dann verbrachte ich in einem mir fremden Land; ich war nicht geflohen, nein, und meine Eltern packten uns auch nicht – wie viele andere Kinder um uns herum – ins Auto, um hunderte Kilometer westlich ein neues Leben anzufangen. Ich war geblieben, wo ich immer schon gewesen war – und fand mich nicht mehr zurecht. Kaum etwas aus meiner Kindheit, abgesehen von ein paar Büchern, hat überdauert, kein Pionierhemd oder Halstuch gar, und auch die Familie findet schon längst, ob 1. Mai oder Weihnachten, nicht mehr zusammen.

Wäre dies die Skizze zu einem Bildungsroman, dann ließe sich von hier aus dennoch ein Bogen spannen zum vermutlich hoffnungsfrohen Ausgang: Jahrzehnte später hat der Mann seine Lektion gelernt, steht mit beiden Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit und mitten im Leben und vermittelt seinen Kindern erfolgreich seine Erfahrungen aus den Leben in verschiedenen Wirklichkeiten. Aber ganz ehrlich: wen interessiert das?

Visegrád, 1978

Und ach: Der Satz von dem Land, das es nicht mehr gibt, könnte von mir stammen, findet sich aber in Wirklichkeit auf Seite 87 in dem Buch Herkunft des 1978 im damaligen Jugoslawien geborenen Saša Stanišić, das wohlweislich ohne Gattungsbezeichnung auskommt. Unbeeindruckt vom ja ziemlich breit getretenen Genre des autobiographischen Romans, spinnt Stanišić mit dieser Versuchsanordnung aus Erzählfragmenten und Geschichtssplittern ein keineswegs lückenloses Netz zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Von der Gegenwart im Jahr 2018 lässt Stanišić seinen Erzähler immer wieder zurückspringen bis tief in die Absurditäten des real existierenden Sozialismus und die sich ankündigenden Abgründe im Vielvölkerstaat Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre. Gerade durch den Verzicht auf Chronologie und Vollständigkeit entsteht eine dichte Geschichte, die von Kindheit und Krieg, Flucht und Ankunft im fremden Land erzählt.

Gleichzeitig aber thematisiert Stanišić das Erzählen selbst und denkt über sich als Erzähler nach:

Diese Geschichte beginnt mit dem Befeuern der Welt durch das Addieren von Geschichten. ... Ich werde einige Male ansetzen und einige Enden finden, ich kenne mich doch. Ohne Abschweifung wären meine Geschichten überhaupt nicht meine. Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens.

Und Saša Stanišić schweift immer wieder ab. Kaum hat man über einige der kurzen Kapitel hinweg Vertrauen in den Fortgang der Geschichte geschlossen, wechselt der Erzähler Zeit und Ort; kaum hat man sich in den Geschichten über die schwierige Anfangszeit in Heidelberg orientiert, katapultiert einen das Buch zurück in die archaisch surreal anmutende Welt der Großeltern nach Visegrád; die Erinnerungen an die Jugendzeit, an Schwarzheide und Heidelberg –

Heidelberg war Flucht und Neubeginn, war das Prekäre und die Pubertät, erste Polizeikontrolle und erste Liebe, Sperrmüllmöbel und Studium. War irgendwann trotziges Selbstbewusstsein, das rief: Weil ich es kann!

– liegen Seite an Seite mit Geschichten von Fußball, Krieg und Neonazis und sind manchmal nur einen Absatz von der Gegenwart mit ihren Flüchtlingsströmen und der erstarkenden Fremdenfeindlichkeit entfernt. Das alles verknüpft Stanišić zwanglos und spielerisch zu einem Flickenteppich, in dem es nur so wimmelt von Geschichten und Geschichtchen. Schlaglichter, Erinnerungsfetzen versammelt Stanišić, um seine Herkunft zu beleuchten. So unzuverlässig Erinnerungen sind, so unverzulässig ist der Autor als Erzähler. Herkunft findest du nicht über eine chronologisch erzählte Geschichte – Herkunft wird gestiftet durch Erzählen und, ja, Erfinden.

Ich sehe zum verfallenen Haus meiner Urgroßeltern, und ich verstehe so vieles nicht. Nicht, wie das Knie funktioniert. Ernsthaft religiöse Menschen so wenig wie Menschen, die Geld und Hoffnung in Magie, Wettbüros, Globuli oder Hellseherei setzen. Ich verstehe das Beharren auf dem Prinzip der Nation nicht und Menschen, die süßes Popcorn mögen. Ich verstehe nicht, dass Herkunft Eigenschaften mit sich bringen soll, und verstehe nicht, dass manche bereit sind, in ihrem Namen in Schlachten zu ziehen.

Wer ist "Ich"?

"Bin das ich?", war Großmutters letzter Satz, an niemanden und an sich und an mich gerichtet, im Altenheim von Rogatica. Das frage ich mich seit zwei Jahren in diesem Text: Bin das ich? Sohn meiner Eltern, Enkelsohn meiner Großeltern, Urenkel meiner Urgroßeltern, Kind Jugoslawiens, geflüchtet vor einem Krieg, zufällig nach Deutschland. Vater, Schriftsteller, Figur. Bin das alles ich?

Und dann ist da noch die Großmutter, die gar nicht mal so heimliche Hauptfigur in diesem Buch. Während das Buch entsteht, erkrankt Stanišić' Großmutter an Demenz, und der Erzähler vermag nur, einzelne Puzzle-Teile ihrer Geschichte festzuhalten, während immer mehr Teile abhanden kommen. Am 29. Oktober 2018 stirbt die Großmutter. Herkunft – das ist das, was du rettest vor dem Vergessen.

In den 1990er Jahren frönte ich ähnlich wie Saša Stanišić einer Leidenschaft für Rollenspiele in Buchform; vor allem Der Einsame Wolf weckte in mir einen (ungefährlichen) Anflug von Spielsucht. Stanišić nun erfindet sich ein eigenes Rollenspiel, indem er die Großmutter in der Nacht aus dem Altenheim "befreit", um mit ihr Drachen zu jagen. Als Leser hat man nun Seite für Seite die Wahl; entscheidet man sich für die Wahrheit oder die Rückkehr zu den Tatsachen, droht meist ein schnelles Ende – nur, indem man sich immer waghalsiger in die Geschichte stürzt, schiebt man das Ende für den Erzähler und seine Großmutter herzaus...

Nicht nur aufgrund des gemeinsamen Geburtsjahrgangs und einiger – zugegebenermaßen eher weniger – biographischer Gemeinsamkeiten fühle ich mich diesem so poetischen wie politisch relevanten Text über die Maßen verbunden; in dieser Mischung aus Nähe und Distanz möchte ich gern auch meine Herkunft noch einmal erkunden – ohne Allwissenheits-Phantasien, doch auch ohne vor dem Vergessen zu kapitulieren.