Jokerman
Das erste Mal hörte ich Bob Dylans Jokerman im Auto eines deutschen Austauschstudenten.
So beginnt Jokerman, der Roman. Wer nun befürchtet, dies sei ein Buch nur für eingefleischte Fans von Bob Dylan, liegt falsch. Zwar knüpft der österreichische Autor und Literaturwissenschaftler Stefan Kutzenberger an zahlreiche Mythen und Lyrics aus dem Wissensschatz der Dylanologen an – das aber mit größtmöglicher Ironie und dem Ziel, das Gewese von Fundamentalisten und Verschwörungstheoretikern als heiße (und durchaus gefährliche) Luft zu enttarnen. Und das anhand eines der Säulenheiligen der Popkultur, auf den sich Musikfans wie Literaturwissenschaftler nicht erst einigen können, seit dieser den Nobelpreis erhalten hat!
Auf diesen ersten Satz folgt denn auch erst einmal ein längerer Diskurs, der weit vorauseilt in die Geschichte, die Kutzenberger (das namensgleiche Alter Ego des Autors) "schließlich bis ins Weiße Haus" führen soll, wie der Leser gleich zu Beginn erfährt. Ein Kurzschluss zwischen Fiktion und (behaupteter) Realität, wie er im Buch des öfteren vorkommt, was Jokerman eigentlich mehr zu einer Reflexion über die Bedingungen guter Geschichten macht als zu einer Geschichte über Dylan.
Und wahrlich: der "wirkliche" zweite Satz des Buches stößt Dylan dann schon vom Thron: Kutzenberger hört den Song nicht etwa in dessen eigener, "enttäuschender" Version, sondern in einer Darbietung von Caetano Veloso.
"There must be some way of here / Said the joker to the thief"
Beginnend in Portugal Mitte der 1990er Jahre, spannt Kutzenberger (der Autor) einen weiten Bogen: auf einem literaturwissenschaftlichen Kongress hält Kutzenberger (der Held wider Willen) einen ziemlich mäßigen Vortrag über Dylan, wird daraufhin aber von einigen Dylan-Kennern um den geheimnisvollen Isländer Guðjónsson als Joker erkannt, der aus zunächst unerfindlichen Gründen gegen Donald Trump (!) ins Feld ziehen soll: Joker sticht Trumph.
Kutzenberger wird zunächst mit unbekannter Mission nach Island beordert, wo er auf den Spuren von Amy Winehouse und Kurt Cobain zwischen allerlei Gerüchten und Wiedergängern seiner eigenen Geschichte wandelt, um sich später – mittlerweile ist es Sommer 2020 und Corona hält die Welt in Atem – als Terrorist in Washington wiederzufinden, im Gespräch mit Salman Rushdie und Hillary Clinton, allesamt Figuren im Bann des großen Bob Dylan, an Wörtern und Bootlegs klebend, Aberglauben und Exegese mischend.
Unsere Aufgabe ist es, diese [Dylans] Texte richtig zu lesen und die Welt reicher und besser zu machen. ... Dylan ist unsere Rettung, er wird uns ans Licht bringen.
Dass Kutzenberger (der traurige Held) am Ende Trump gegenüber stehen wird, um dessen Wiederwahl zu verhindern, ist nicht zu viel verraten – immerhin plaudert das Kutzenberger (der Autor) ja gleich am Anfang aus.
Dem mir bis dahin unbekannten Autor ist mit diesem Buch so etwas wie den Überraschungscoup der Literatursaison gelungen. Im Jahr der Präsidentenwahl in den USA einen Roman vorzulegen, der mit dem Mythos Dylan spielt, während dieser, statt weiter auf der Neverending Tour unterwegs zu sein, ein neues und diesmal wirklich starkes Album vorlegt, genügt eigentlich. Noch dazu, wenn der "Meister" mit dem epischen Murder Most Foul selbst einen Song über einen Präsidentenmord zum Besten gibt. In das fertige Buch dann nicht nur Song und Album sondern auch noch Corona einzubauen und so eine endlose, sich in Echtzeit vollziehende Spiegelung zwischen Literatur und Realität vorzugaukeln, setzt dem noch einen drauf. Dass dann das Covermotiv von Dylans Single False Prophet (wahrscheinlich zufällig) auch noch den Showdown im Buch illustriert, wie auf cowboyband unterstrichen wird – das kommt dann doch fast einem Ritterschlag gleich. Zumindest für den, der an diese merkwürdigen merkwürdigen Zusammenhänge glauben mag, die Gegenstand dieses Buches sind: Wie stiftet man Sinn in einer zunehmend verwirrenden Welt?
"There's too much confusion / I can't get no relief"
Wie auch immer: für mich persönlich ist Jokerman schlichtweg das abstruseste und unterhaltsamste Buch, das ich seit Ewigkeiten gelesen habe. Ein hochspannender Thriller und eine ziemlich gewitzte Versuchsanordnung über das Verhältnis von Literatur und Realität zugleich. Es ist nicht die Katastrophe, so wird es Salman Rushdie in den Mund gelegt,
wenn Realität Literatur wird. Die wahre Katastrophe ist, wenn Literatur Realität wird.
Kutzenberger (der Autor) legt seinen Protagonisten gleichen Namens als Ritter der traurigen Gestalt an: dem Literaturwissenschaftler, wie er im Buche steht, der es im Leben zu kaum etwas gebracht hat, voller Selbstzweifel, voll unerfülltem Liebesverlangen, der nach Studium und gescheiterter Ehe wieder bei seinen Eltern lebt, geschehen wahrhaft unglaubliche Dinge, die er selbst fast bis zum Ende nicht durchblickt. Er ist der Anti-Held eines Schelmenromans über unsere medial aufgeheizte Zeit, der seine Vorgänger im Don Quichotte oder im Simplicissimus des Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen hat und auch an die Erzählkunst von Kunzensbergers Landmann Michael Köhlmeier erinnert.
Schreiben oszilliert immer zwischen Altpapier und Nobelpreis.
Vielleicht ist es diese banale Einsicht, die den Wagemut und Übermut dieser Erzählweise ermöglicht. Kaum eine Seite vergeht ohne eine überraschende, nicht für möglich gehaltene Wendung – und Kutzenberger gelingt das Unglaubliche: "das bewusste Aussetzen der Ungläubigkeit" als Bedingung von Literatur, wie es im Roman heißt. Anders gesagt: das Geschehen in diesem rasanten Buch spottet jeder Wahrscheinlichkeit, und erscheint doch auf faszinierende Weise möglich, sinnvoll.
Warum man nicht aussteigt? Warum man zu dem armen Kutzenberger hält und dem Autor auf seinen gewagten Wegen folgt? Das lohnt sich bei der Lektüre von Jokerman herauszufinden. Ein großes Vergnügen, kurzweilig und ziemlich intelligent.
Stefan Kutzenberger: Jokerman. Berlin Verlag 2020