Vertrauensübung
Am Ende ihres Buches dankt die Autorin Susan Choi unter anderem ihren Mitschüler*innen und Lehrer*innen an der HIgh School for the Performing and Visual Arts in Houston und betont, diese sei „ganz ausdrücklich das positive Gegenstück zu meiner fiktiven CAPA und ein Hort der Träume, nicht der Albträume“. Nachdem ich die Tour de Force der zurückliegenden 350 Seiten überstanden habe, bin ich für diesen Hinweis wirklich dankbar: Es gibt andere, bessere Orte als den, an dem dieser Roman spielt.
Die Danksagung erklärt auch eine der Stärken dieser Romans: Choi weiß, wovon sie erzählt. Ihr Roman Vertrauensübung spielt an der (fiktiven) CAPA, der Citywide Academy for the Performing Arts, einer Schauspielschule in einer amerikanischen Kleinstadt. Und Chois Schilderung von Schauspielübungen, Theaterproben, Backstage-Routinen ist so erstaunlich klischeefrei, dass allein das diesen Roman lesenswert machen könnte. Denn wer vermag das schon: klischeefrei und realistisch über das Leben auf und hinter der Bühne zu erzählen? Noch dazu, wenn es um das an Klischees ja nicht gerade arme „Freie Theater“ geht.
Vertrauensübung (I)
“Das Fundament, das wir zur Rekonstruktion des Egos benötigen, ist die Dekonstruktion des Egos“,
erklärt der Schauspielguru Mr Kingsley seinen jungen Schüler*innen. Er ist der Star der Schule, der bis ins hohe Alter aufgrund seiner Unangepasstheit einen Freibrief in Sachen Lehrmethoden und Verhaltensweisen besitzt. Dankbar darf man sein, von ihm unterrichtet und unterstützt zu werden.
Zwei seiner Schüler*innen stehen zunächst im Mittelpunkt des Geschehens: Sarah (aus einfachen Verhältnissen, jobbt morgens in einer Bäckerei) und David (reiche Eltern, sozial angesehen). Sie versuchen sich an so etwas wie einer Beziehung, eingezwängt in den sozialen Druck an der Schule, zerrissen zwischen all den Erfahrungen, die sie in den Gängen und Proberäumen der CAPA machen. Was wie eine High-School-Geschichte beginnt, löst zunehmend ein nicht so recht lokalisierbares Unbehagen aus.
„Ich bin müde“, spricht sich Sarah irgendwann gegenüber Mr Kingsley aus, der das Vertrauen all seiner Schüler*innen genießt, und sie bringt es auf den Punkt:
“Die gescheiterte Selbstmörderin Jennifer, der zwangsverwaiste Greg, der mittellose Manuel und sie, Sarah – alle wurden sie ihrer unbekümmerten Kindheit beraubt, und darum wurden sie auch auserwählt, darum wurden sie als frühreife Erwachsene anerkannt.“
Genau, möchte man sagen, eigentlich sind das doch alles Kinder! Unsichere, suchende, nach Anerkennung, Bestätigung, Aufmerksamkeit hungernde Kinder in den Mühlen eines Betriebes, den sie nicht verstehen, der aber gekennzeichnet ist von: Grenzüberschreitung. Manipulation. Blindem Konkurrenzstreben. Die „Dekonstruktion des Egos“ ist nichts anderes als seelischer (und mitunter auch körperlicher) Missbrauch im Namen der Kunst. Die titelgebende Vertrauensübung ist eine besonderes perfide Methode, die Kingsley entwickelt hat, damit seine Schüler*innen sich wirklich „öffnen“. Man ahnt: das ist nicht nur im übertragenen Sinne zu verstehen.
Okay: dieser Roman ist also eine Mischung aus Enthüllung über besonders manipulative Verfahren in der Ausbildung von Schauspieler*innen, gepaart mit Sozialstudien und Beziehungskisten, obligatorische Ekzesse und für die Adoleszenz typische Grenzerfahrungen inklusive. Dachte ich mir so, bis auf S. 178 der Roman abbrach – und ein zweites Mal begann?
Vertrauensübung (II)
In dem, was auf S. 181 beginnt, zeigt sich: das Erzählen als solches ist genau so eine Vertrauensübung. Wer erzählt? Was kann ich glauben? Inwieweit bin ich bereit, meine bisherigen Annahmen zu revidieren? Das Bild, das ich mir gemacht habe, zu verändern?
Eine neue Erzählerin übernimmt die Regie. Sie hat das Buch, geschrieben von einer Frau, die sich selbst Sarah nannte, auf Seite 178 „zugeschlagen“ (nicht ohne Grund, wie wir erfahren werden). Die Frau, die in diesem ersten Buch den Namen Karen trug, macht sich nun bereit, Jahrzehnte später ihrer einstigen Freundin, der gescheiterten Schauspielerin und frisch gebackenden Autorin, nach einer Lesung gegenüberzutreten. Sarah, Karen, David, die CAPA – alle heißen in Wirklichkeit anders, alle sind, so behauptet zumindest Karen in dieser zweiten Vertrauensübung, Teil einer sicher nicht ganz selbstlosen Inszenierung.
“Als wir Kinder waren, oder Schülerinnen oder was auch immer wir an dem Ort waren, den wir hier weiterhin CAPA nennen wollen, brachte man uns bei, dass ein intimer Moment keinerlei Bedeutung hat, wenn er nicht Teil einer Inszenierung ist. Wie wir einander gern hatten, hassten, beneideten, mobbten und bestraften, erschien uns nie hinreichend echt, wenn Mr Kingsley es nicht während VERTRAUENSÜBUNGEN auf die Bühne holte, und er wählte nur sehr wenige unserer Momente aus. Sarah und David, das sollte für jeden offensichtlich sein, wurden von uns allen um die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde, beneidet.“
Wem angesichts dieser verschiedenen, fiktionalen Ebenen schwindlig wird, keine Sorge: das ist Teil der Vertrauensübung. Oder anders: die von verschiedenen Akteuren unternommenen Inszenierungen, die hier einander unterbrechen, sind ein Weckruf, misstrauisch zu werden. Als Leser*in bin ich Teil dieser intelligenten Versuchsreihe, die vor allem eins zum Ziel hat: Manipulation. Machtmissbrauch. Und deren Aufdecken.
Was nun folgt, Jahre später, ist eine düstere Rachegeschichte, die all das aufreißt, was in der High-School-Story des ersten Teils nur zu ahnen war. Lehrer, die mit ihren Schüler*innen schlafen, Regisseure, die ihre Macht ausnutzen, Jugendliche, die auf sich allein gestellt gezwungen sind, sich zu behaupten. „Wir waren doch niemals Kinder“, sagt David, der mittlerweile ein von seinem einstigen Lehrer Kingsley unterstützer, angesehener Off-Theater-Regisseur geworden ist. Sarah ist fast vergessen, doch Karen (bzw. die Frau, die von der Autorin namens Sarah Karen genannt wurde), spielt sich zielstrebig in den Mittelpunkt der Handlung.
Verbunden in einer Elitären Bruderschaft der Künste beschließen verschiedene Männer, miteinander ein Stück aufzuführen, das ein Stück weit ihre eigene Geschichte nacherzählt. Es wird Karen sein, die dieser Reinszenierung männlicher Selbstherrlichkeit eine ordentliche Portion Realitätsgehalt verleiht. Mehr kann ich an dieser Stelle nicht verraten, doch vertrauen Sie mir: Susan Chois Roman ist eine atemberaubende Lektüre, die eine lange nachwirkende Verunsicherung auslöst.
Vertrauensübung (III)
Wie sich zeigen wird, handelt Vertrauensübung nicht nur von einer Schauspielschule, von alten Männern und unerfahrenen Jugendlichen. Wenn am Ende des Romans eine junge Frau namens Claire auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter ist, wird sie einen Schulleiter besuchen, der kurz vor seinem Tod geradezu mystisch verehrt wird. Er ist Teil eines systematischen, institutionalisierten (Macht-) Missbrauchs. In diesem Roman trug er den Namen Kingsley. Es ist nicht sein wahrer Name.