Gallwitz
Ich las gerade noch in dem frisch erschienenen Werkstattbericht von Benedict Wells über Die Geschichten in uns, in dem er etliche Werkzeuge und Prinzipien guten Schreibens ausführlich und anhand des eigenen Schreibens darstellt (Besprechung folgt), da lieferte mir Vera F. Schreiber in ihrem Romandebüt Gallwitz die Kurzfassung genau dieser "handwerklichen Grundprinzipien":
"Eins heißt 'Show, don't tell ', ein anderes 'Don't state the obvious,"
rät im Roman der einstige Deutschlehrer Karl Niemetz seiner ehemaligen Schülerin Jana Gallwitz:
"Das erste bedeutet: Wo immer möglich, solltest du das, was du mitteilen möchtest, am konkreten Beispiel zeigen, statt es abstrakt zu referieren. Das zweite: Offensichtliches brauchst du nicht extra zu formulieren. Der Leser erkennt es auch so."
Jana, seit Neuestem im Ruhestand, hat soeben ihren Mann vor die Tür gesetzt und reist zu dem nun als Journalist arbeitenden NIemetz, um von ihm Hilfe für ihr Romanprojekt zu erhalten: einen "Krimi über Korruption, Machtmissbrauch und kriminelle Strukturen in einer europäischen Behörde". Das Problem: ihre Texte seien bisher "durchwegs in fachsprachlicher Diktion abgefasst, inhaltlich streng sachbezogen und terminologisch präzise".
"Um eine Geschichte zu erzählen, schreibe ich zu sachlich",
sagt sie. Was nun beginnt, ist jedoch vor allem eine ganz idyllisch anmutende Lovestory vor dem Horizont aktueller politischer Entwicklungen. Das Romanprojekt verliert die Autorin Schreiber irgendwie aus dem Auge, dafür steigt sie tief hinab in die biographischen Hintergründe des einstigen Lehrers – und somit tief in die deutsche (Nachkriegs-) Geschichte. Irgendwie sucht sie dabei nach Erklärungen für die Tendenz zur Radikalisierung bei einigen Zeitgenoss*innen – und für die Kraft zum aufrechten Widerstand bei anderen. Alfred Andersch hat das in seiner Erzählung Der Vater eines Mörders schon vor Jahrzehnten beschrieben – mit einer Prägnanz und einer Klarheit, die der Debütroman der bisher weitgehend unbekannten Autorin leider vermissen lässt.
Jahrzehnte nach dem Ende der Schulzeit stehen sich also Schülerin und Lehrer gegenüber, wechseln einige ziemlich steife Dialoge zum Thema Schreiben, die so in jedem Schreibratgeber für Anfänger stehen könnten, kochen gemeinsam Nudeln und schlafen schon bald in einem Bett. So schön, so konstruiert. "Geschichten schreiben ist Handwerk", sagt Niemetz und rät zur Geduld ("Mindestens zwei Jahre, bis du dein Manuskript an ein Lektorat schicken kannst."). Im Falle von Gallwitz aber wünschte ich mir, dass die Autorin dem von ihr selbst referierten Schreibkurs etwas aufmerksamer zugehört hätte. Handwerk und eine, wie der Verlag schreibt, "lange Karriere im Technologiebereich" reichen leider nicht für einen lesenswerten Roman. Da mag das Thema noch so relevant sein, die Autorin noch so viel zu sagen haben. Der Funke springt einfach nicht über.
Denn eigentlich geht es in diesem Roman ja um etwas ganz anderes. Da ist noch Janas Ex-Mann Harmut Gallwitz. Gleich am Anfang lernen wir ihn auf der Intensivstation kennen – kurz bevor seine Frau entscheidet, die lebenserhaltenden Geräte abstellen zu lassen:
"Da liegst du nun, Hartmut Gallwitz. Als naives Versuchskaninchen hast du mich beschimpft, weil ich mich impfen ließ. Und du stirbst jetzt an einer Krankheit, die es gar nicht gibt. An einem Fake, ausgedacht von Wissenschaftlern, um der Pharmaindustrie Milliarden zuzuschanzen, und von der Verbrecherregierung, um uns zu knechten."
Corona-Legner, Querdenker, Rechtspopulist, Nazi: Das etwa ist die Verfallskurve, die Vera F. Schreiber zeichnet. Es ist die Schwarz-Weiß-Version einer Geschichte, die uns mittlerweile regelmäßig vor Rätsel stellt: Warum verlieren sich viele Menschen in diesem Land zunehmend in Blasen, Verschwörungstheorien und in den Fängen rechter und linker Populisten? Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben dafür aus sozialwissenschaftlicher Perspektive das Bild der Gekränkten Freiheit gefunden (und eine sehr lesenswerte Analyse verfasst). Bei Vera F. Schreiber liest sich das, kurz gefasst, so:
"Ein Mann riskiert seine seit dreißig Jahren bestehende Ehe, seinen Freundeskreis und ein sorgenfreies Leben für eine Partei von Rechtspopulisten und deren unsägliche Ideen."
Was mit etwas Schwurbelei beginnt, artet in Beschimpfung von Ehefrau und Freunden aus, führt irgendwann zu Wahlplakaten und Wahlkampfständen in der Fußgängerzone – und später dann, nach dem Rausschmiss durch seine Ehefrau und einer Liason mit der russisch sprechenden Parteigenossin Bogdana: zum Tod durch Covid.
Relevantes Thema, gut recherchiert und konstruiert: doch zum Verständnis dieser Figur trägt der Roman nichts bei. Wirklich glaubwürdig sind weder Gallwitz noch seine Frau oder der ehemalige Lehrer. Alles bleibt schematisch, schwarz-weiß, vage und abstrakt. Was schon da anfängt, dass Schreiber auf der einen Seite mit der Pedanterie einer Historikerin in die bundesdeutsche Geschichte hinabsteigt, die Gegenwart aber immer nur durch die Blume zu beschreiben wagt. Warum eigentlich? Weiß doch jeder, welche Partei gemeint ist, wenn von der Partei die Rede ist, "die den Euro abschaffen und die Grenzen dichtmachen wollte". Oder wer jener "Führer einer deutschen Rechtsaußenpartei und Reichsjägermeister" ist, der berühmt wurde mit dem Spruch: "Wir werden sie jagen!" Warum hier um den heißen Brei drumrum geredet wird, ist nur eines der unerklärlichen Ärgernisse dieses Romans, in dem die Menschen miteinander sprechen wie direkt gespeist aus Wikipedia. Ein anderes ist die holzschnittartige, "technische" Sprache und ein etwas merkwürdiger Humor.
Niemetz hat sich am Wahlkampfstand gerade mit dem Exmann seiner jetzigen Geliebten ein für den Roman irgendwie wichtiges Streitgespräch geliefert, das dem Leser jedoch auch keine neuen Erkenntnisse schenkt, da kauft er sich in der Buchhandlung die kommentierte Neuausgabe von Hitlers Mein Kampf, isst eine Bratwurst und setzt sich mit dem Buch in einen Park.
"Gerade als er Pappteller, Tüte und Serviette in den Abfallkorb werfen wollte, verlor eine Ringeltaube auf dem Ast über ihm ein wenig Körperflüssigkeit, die als weißlicher Fladen direkt auf den grauen Einband flatschte- Die Taube flatterte davon, und nach einer Schrecksekunde bekann Niemetz zu lachen..."
Da wünscht man sich als Leser, dieser Tipp mit dem "Kill your Darlings" wäre mehr als nur ein Ratschlag einer Romanfigur für andere gewesen...