Was bedeutet das alles?

Einfache Antworten auf komplexe Probleme – das ist nicht nur ein Mittel von Rechtspopulisten. Die Vereinfachung komplizierter Materie muss nichts Schlechtes: anders kann der Mensch mit dem Übermaß an Informationen und Sinneseindrücken schlichtweg nicht umgehen. Zum Handeln gehört der Wille zum Ausblenden und zum Weglassen zwingend hinzu. Dennoch stößt mir der allgegenwärtige Trend zu Vereinfachung und Reduktion zunehmend auf; allzumal angesichts der zahlreichen miteinander zusammenhängenden Probleme (aka Problemkomplexe), denen sich die Menschen gegenübersehen – von A wie Amazon bis Z wie Zukunftsfragen. Und dazwischen: Klimakrise, Migranten, Dieselverbot.

Ansichten aus der Mitte Europas

Im Vorfeld der sächsischen Landtagswahl erschien ein schmales Büchlein der sächsischen Ex-Grünen und Politikberaterin Antje Hermenau mit dem vielsagenden Untertitel: Wie Sachsen die Welt sehen. Nicht die Mutter der Probleme, aber doch der Schlüssel zu ihnen, ist für Hermenau – natürlich – die “Massenmigration”. Schon eine kurze Leseprobe genügt, um an der allzu vereinfachenden Weltsicht zu verzweifeln, die hier ”den Sachsen” allgemein angedichtet wird.

Über den Industriestaaten braut sich ein gewaltiges Unwetter zusammen,

so Hermenau. Das beeindruckende aber letztlich unscharfe poetische Bild ersetzt zwar keineswegs die tiefgründige Analyse, aber man kann dem im Prinzip durchaus zustimmen. Das Unwetter lässt sich ja ziemlich genau beschreiben: der kulturelle Wandel, der mit der Digitalisierung einhergeht, die Herausforderungen in Zeiten der Globalisierung, das wirtschaftliche Ungleichgewicht auf dem Globus, die Klimakrise und die sich abzeichnenden notwendigen wie unfreiwilligen Veränderungen in Bezug auf Konsum, Produktion, individuellen Wohlstand ... Allein: das Bild stimmt schon deswegen nicht, weil das Unwetter über “den Industriestaaten” ja ganz zuletzt aufzieht – während der Rest der Welt schon lange unter und mit den Gewitterwolken zu leben hat.

Für die Industriestaaten jedenfalls hat Hermenau auch eine Lösung: die “kulturelle Resilienz”. Aber oh weh:

viele Quellen einer solchen inneren Widerstandskraft wurden aufs Spiel gesetzt, gezielt geschwächt und sogar böse beschimpft: Familie, Religion, Kultur und Nation. ... Es muss verstanden werden, dass den Menschen ein verbindliches Wertefundament, das den Alltag im Miteinander verlässlich regelt, sehr wichtig ist.

Deshalb fordert Hermenau nichts weniger als die Rückkehr zu einem starken Rechts- und Sozialstaat - am besten in klaren Grenzen, eindeutig definiert und unter Ausschluss all der Widersprüche, die diese Welt nun einmal – im Guten wie im Schlechten – ausmachen. Folgt man dieser Beschreibung, “wie Sachsen die Welt sehen”, muss man am Realitätssinn der hier gemeinten “Sachsen” zweifeln. Wahrscheinlich, zum Glück, gibt es diesen Stamm in der von Hermenau behaupteten Eindeutigkeit gar nicht.

Zur Vereindeutigung der Welt

Die Vereindeutigung der Welt ist indes kein sächsisches Problem. Natürlich nicht. Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer setzt sich in dem gleichnamigen schmalen Band, erschienen in der Reclam-Reihe Was bedeutet das alles, mit dem Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt auf verschiedensten Ebenen auseinander –und liefert einen wertvollen Schlüssel zu den Problemen der Gegenwart, der über die Sackgasse konservativer Lösungsvorschläge hinausweist.

Bauer konstatiert eine Entwicklung, die zu einem “Weniger an Bedeutungen, am Ambiguität und an Vielfalt” führt – in der Natur, in Mode und Lebensstil, in Literatur, Religion, Wissenschaft, in Städtebau, in der Bildung. Der Grund ist simpel: Die Welt, so Bauer, ist uneindeutig und “voll von Ambiguität” – der Mensch aber kann das nur schlecht aushalten und versucht Ambiguität weitgehend zu vermeiden. Oder: zu reduzieren. Oder: auszublenden. Allerdings:

Sobald man Ambiguität an einem Ende zurückdrängt, entsteht sie an einem anderen Ende und in oft unerwarteter Form neu.

Ambiguität lässt sich nicht restlos beseitigen. Weshalb Menschen und ihre Kulturen seit jeher mit einem Mindestmaß an Ambiguitätstoleranz leben müssen. Je nach Kultur ist dieses Maß unterschiedlich ausgeprägt.

Meine These lautet nun, dass unsere Zeit eine Zeit geringer Ambiguitätstoleranz ist. In vielen Lebensbereichen – nicht nur in der Religion – erscheinen deshalb Angebote als attraktiv, die Erlösung von der unhintergehbaren Ambiguität der Welt versprechen.

Die erstarkenden fundamentalistischen Strömungen in den Religionen sind hierfür z.B. ein Ausdruck: die heiligen Schriften des Islam oder des Christentums legen keineswegs eine fundamentalistische, d.h. vereindeutigende Lesart des “Wortes Gottes” nahe – sondern sind von hoher Offenheit und Mehrdeutigkeit gekennzeichnet. Ja, man ist versucht zu sagen: Das Bewusstsein für die Ambiguität des Daseins, für die Vorläufigkeit menschlicher Erkenntnis, für die Brüchigkeit menschlichen Welterlebens offen zu halten, könnte eine Funktion der Religion in Zeiten sein, in denen vermehrt Abgrenzung, Entschiedenheit, reines Nutzendenken eine Rolle spielen. Ähnliches ließe sich über Literatur, Kunst, Musik sagen.

Religion und Kunst sind Rückzugsgebiete für Ambiguität und können nur in diesem Rahmen gedeihen,

so Bauer. Als Alternative bleibt nur der freie Markt, der die Produkte nach Nutzen und Verwertbarkeit einordnet. Die Folge ist letztendlich der überall beobachtbare Bedeutungsverlust bei gleichzeitiger Omnipräsenz des zur Belanglosigkeit verdammten Kulturgutes (Stichwort Streaming). Oder der “Authentizitätswahn” in Literatur, Theater und auch Politik, der letztendlich ein Verlangen nach Eindeutigkeit produziert, das Widersprüche und Mehrdeutigkeiten zugunsten einfacher Rezeption und möglichst sinnvoller Verwertbarkeit ausblendet. Die kulturellen Formen der Gegenwart: sie laden ein zum Konsum – nur irritieren, stören sollen sie nach Möglichkeit nicht.

Über die Sphäre der Kultur hinaus beobachtet Bauer die Vereindeutigung der Welt denn auch ebenso in Politik und Wirtschaft. Menschen orientieren sich wieder an klar definierten Identitäten, und die zum Maß aller Dinge erhobene Wirtschaft ist an nichts so sehr interessiert, wie an einem optimierten, effektiv arbeitenden Menschen, der möglichst viel aus sich macht, wo

kein Zweifel, keine Unentschiedenheit mehr den reibungslosen Gang der Maschine beeinträchtigt.

Ambiguität ist schlicht kontraproduktiv.

Bauers Gegenrezept?

Bedeutungsvolle Kunst im öffentlichen Raum ..., die Schaffung von schönen Plätzen für geselligen Austausch in unseren Städten, Kunst-, Musik- und Instrumentalunterricht durch alle Klassen ..., die Auseinandersetzung mit assoziationsoffener Literatur, eine naturkundliche Bildung, die die Schönheit, Vielfalt und Verletzlichkeit unserer Natur vermittelt: All das könnten erste Nothilfemaßnahmen sein, um der Vereindeutigung unserer Welt entgegenzuwirken.

Versuch eine Religion zu verstehen

Warum gerade ein Islamwissenschaftler auf eine solche, wie ich finde, fruchtbare Beschreibung unserer Miserere stößt, lässt sich verstehen, liest man ein weiteres Büchlein aus der Reclam-Reihe: Den Islam denken von Frank Griffel.

Dessen Versuch, eine Religion zu verstehen liefert zunächst einmal nichts davon, was man von einer Einführung in den Islam erwarten würde. Keine Einführung in die Grundlagen des islamischen Glaubens, keine Erläuterung des Koran, keine Schilderung von Glaubenspraxis. Dafür eine gehörige Menge von an den “Westen” adressierter Selbstkritik.

Griffel setzt sich dafür ausführlich mit der weit verbreiteten Ansicht auseinander, dass auf ein “Goldenes Zeitalter” des Islam (dem sogenannten “klassischen Islam”) Verfall und Niedergang einsetzten. Islamische Gesellschaften seien in einem vormodernen Stadium, ja, in einem “finsteren Mittelalter” stecken geblieben. Griffel widerspricht dem. Ein möglicher Verfall des Islam setzte nicht vor der Kolonialisierung im 18. Jahrhundert ein, sondern mit ihr – und die Erzählung vom Verfall lässt sich nur aufrecht erhalten, wenn man den Islam im Vergleich mit der europäischen Moderne und dem von Europa diktierten Fortschrittsdenken betrachtet.

Zusammen mit der Narration eines Aufstiegs der europäischen Philosophie seit dem 13. Jahrhundert kam die Idee auf, dass sich die Philosophie in der islamischen Welt im gleichen Zeitraum im Niedergang befand.

Dabei handelt es sich um eine letztlich eurozentristische, dem aufklärerischen Fortschrittsdogma verpflichtete Wahrnehmung, die den Eigenheiten islamischen Denkens schlicht nicht gerecht wird:

Nach etwa 1100 bildete sich im Islam eine Gesellschaft heraus, die sich den uns bekannten Kriterien von stetigem Fortschritt und Aufschwung widersetzte.

Griffel widmet den Kern seiner Ausführungen der “so ganz anderen Philosophie” des nachklassischen Islam, wie sie sich zum Beispiel bei Fachr ad-Dīn ar-Rāzī zeigt, eine Philosophie,

die sich nicht mehr ihrer Ergebnisse, Positionen und Lehren sicher ist, sondern sich langsam an Lösungen herantastet.

Eine Philosophie der – man ahnt es – Ambiguität, die für das islamische Denken und seine Schriften grundlegend ist; eine Mehrdeutigkeit, die nicht nur die katholische Kirche sondern eben auch die neuzeitlichen Denker in Europa nur schwerlich aushalten. Im Islam hingegen “gab es niemals einen Papst und auch keine Bischöfe, die Listen häretischer Lehren ... veröffentlicht haben.“ Auch zur Inquisition gibt es in der islamischen Welt kein Äquivalent.

Allerdings: “Ambiguität macht langsam.” Gegenüber dem aggressiven europäischen Denken und Machtstreben sehen andere Kulturen – nicht nur der Islam – alt aus. Das zeigt Griffel eindrücklich am Beispiel der indigenen Völker Amerikas. In letzter Konsequenz schreibt er so anhand des Verhältnisses zwischen europäischem und islamischem Denken eine Geschichte der Kolonialisierung, in deren Zentrum der so erfolgreiche abendländische, mittlerweile globalisierte Fortschrittsbegriff steht.

Den Islam wirklich verstehen zu wollen, bedeutet, ihn nicht vergleichend wahrzunehmen, ihn nicht stets an “uns” messen zu wollen.

Lässt man sich auf die Andersartigkeit der uns fremden Kultur ein, so Griffel, lässt sich unter Umständen eine andere Perspektive auf einige unserer unhinterfragbaren Glaubenssätze entdecken – mit Erfahrungen und Einsichten jenseits von Fortschrittsglauben und Leistungssteigerung.

Aber das würde ja, oh Gott, der Ambiguität und möglichen Widersprüchlichkeit der Welt Tür und Tor öffnen. Vielleicht müssten wir sogar einsehen, dass wir in der Mitte Europas nicht der Nabel der Welt sind.

Was bedeutet das alles? Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Frank Griffel: Den Islam denken. Reclam 2018.