Die Ferien
“Niemand ist gezwungen, in den Urlaub zu fahren,“
sagt Keru zu ihrem Mann Nate irgendwann: „Wir könnten auch einfach arbeiten, bis wir tot umfallen.“ Aber nein, die beiden fahren in den Urlaub, zweimal sogar innerhalb von zehn Jahren, und von diesen Versuchen, den Alltag hinter sich zu lassen, erzählt Weike Wang in ihrem schreiend komischen aber auch ziemlich schmerzhaften Roman, in der Übersetzung von Andrea O'Brien schlicht Die Ferien genannt.

Von New York aus fahren Keru und Nate kurz nach der Corona-Pandemie hinaus ans Meer. Das Ferienhaus hat Keru, die arbeitsame und beruflich erfolgreiche Tochter chinesischer Einwanderer, ausgesucht – und es sind auch ihre Eltern, die sie, ausgestattet mit Masken, Handschuhen und einem großen Sicherheitsbedürfnis, als erstes besuchen. „Die gesamte Woche verbrachte man im Haus, alles drehte sich ums Essen“, heißt es irgendwann lakonisch. Ausflüge sind für die mega vorsichtigen Eltern undenkbar, und so spitzt sich innerhalb der Wände des Rental House (so der Originaltitel) ein Drama zu, das mehr ist als ein familiäres: Weike Wang seziert fast schon genüßlich, wie kulturelle Vorurteile tiefe Gräben zwischen Generationen und Familienmitgliedern ziehen, wie sich nicht geklärte Missverständnisse aufeinander stapeln – und wie, nun ja, „Lager“ entstehen, in denen nicht viel mehr bleibt als Stereotype und Verallgemeinerungen. Hier die Immigranten, dort die Patrioten, hier White Trash, dort woke Großstädter, hier „Festlandchinesen“, dort die aus Taiwan.
“Wenn er mit seinen Schwiegereltern zusammen war, erlebte er live mit, wie seine Frau sich in einen anderen Menschen verwandelte.“
Wen wundert’s: die Unterschiede zwischen den Familien der jungen Eheleute scheinen fast unüberbrückbar. Das zeigt sich umso mehr, als Nates Eltern kurz darauf in das Ferienhaus einziehen, die in allem das Gegenteil von Kerus Eltern sind. Übergewichtig, kaputt von zu viel Arbeit, mit der nicht zu stillenden Angst, zu kurz zu kommen, Trump-Wähler. Dass Nate als Biologe sein Leben der Fliegenforschung widmet, statt als angesehener Jurist seiner unter die Räder gekommenen Familie zu helfen, ist nur einer von vielen wunden Punkten. Der Besuch verläuft, kurz gesagt, nicht wesentlich entspannter als der von Kerus Eltern – und endet damit, dass Keru, die ihrer Wut gern mit dem Werfen von Gegenständen Ausdruck verleiht, eine Axt mitsamt brennendem Holzstumpf ins Cottage schleudert.
Ein kurzes Zwischenspiel und fünf Jahre später versuchen es Keru und Nate ein zweites Mal mit einem Urlaub.
Inzwischen leben sie eine Fernbeziehung, da Keru erfolgreich aufgestiegen ist (und auch für den Unterhalt von Nates Mutter sorgt), während Nate zu seinem 40. Geburtstag verbeamtet ist aber tief in der Midlife-Chrisis steckt. Diesmal geht es in die im Landesinneren gelegenen Catskills, wo Keru einen Bungalow gebucht hat – inmitten eines luxuriösen Ferienparks. Statt Natur, Ruhe, Zurückgezogenheit gibt es WLAN, eine Ausstattung wie aus dem Bilderbuch und: Nachbarn. Das Ehepaar mit Kind und rotem Tesla stammt ursprünglich aus Rumänien, lebt aber eigentlich in Rotterdam und zur Zeit aufgrund eines hoch dotierten Jobs bei der Zentralbank in New York. Wenn dies ein Roman über Schubladen ist, dann wäre das wohl die Schublade „globalisierte Elite“.
“Wir haben schon viele Paare wie euch getroffen“,
sagt Elena, die glückliche Ehefrau aus Rumänien irgendwann zu Keru: „teils asiatisch, teils weiß, und in neunzig Prozent der Fälle war die Mutter Asiatin und der Vater Weißer. … Ich bin mittlerweile mit vielen asiatischen Ehefrauen befreundet. Und die sind immer gestresst.“ Ihr Ehemann versucht abzumildern:
“Mit ‚ihr‘ meinen wir natürlich nicht euch persönlich… Wir meinen euch allgemein.“
Als später auch noch Nates Bruder mit zwielichtigen Geschäftsplänen auftaucht, zieht sich die Schlinge um Nate und Keru immer weiter zu. Statt ihrem Alltag zu entfliehen, holt sie die Wirklichkeit ein. Die Wirklichkeit einer zunehmend unübersichtlichen Gesellschaft, in der die Menschen gelernt haben, einander mit Allgemeinplätzen und Stereotypen zu begegnen, statt miteinander zu sprechen. Die Wirklichkeit ökonomischer Zwänge und tiefer kultureller Prägungen. Die Wirklichkeit von auf die Probe gestellten und manchmal scheiternden menschlichen Beziehungen. Zum Glück ist da noch Kerus ungezügelte Wut, die es ihr unmöglich macht, sich mit all diesem Irrsinn zu arrangieren:
“Von jeher war die Wut die Triebfeder ihres Ehrgeizes gewesen, und so würde es auch bleiben, Wut, die sie kanalisieren würde, um das Ungleichgewicht geradezurücken, in dem sich sie und ihr Mann gerade befanden.“