Nicht Nichts!

Janne Teller: Nichts

„Fürchtet ihr euch etwa vor dem Nichts?“

Da sitzt einer auf dem Baum, statt zur Schule zu gehen, einfach so. Da wirft einer mit Pflaumen auf die, die weiter das machen, was man von ihnen erwartet. Da ist einer ausgestiegen und fordert den Rest der Welt mit seinen Fragen heraus:

„Warum tun alle so, als sei alles, was nicht wichtig ist, sehr wichtig, während sie gleichzeitig unheimlich beschäftigt damit sind, so zu tun, als wenn das wirklich Wichtige überhaupt nicht wichtig ist?“

Es dauert nicht lange, da fliegen Steine auf den da im Baum. Nicht dass ihn, Pierre Anthon, das irgendwie beeindrucken würde. Wie Diogenes in der Tonne hält er der Umwelt einen Spiegel vor, provokant, polemisch, beunruhigend.

„Ich gaffe nicht in die Luft. Ich schaue in den Himmel und übe mich darin, nichts zu tun. … Nichts bedeutet irgendetwas. Das weiß ich schon lange. Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun.“

Nein. Das kann man nicht hinnehmen. Natürlich nicht. In dem beschaulichen Vorort Taering, wo eigentlich alles seines provinziellen, alltäglichen Gang geht, wo aus jedem Kind etwas werden soll, also jemand, da braucht man nicht diese leibgewordene Stimme in seinem Kopf, die fragt: Hat das alles einen Sinn?

Janne Tellers schon fast zehn Jahre altes Jugendbuch Nichts, das erst jetzt auf Deutsch erschienen ist (nachdem es an dänischen Schulen zunächst verboten war, dann aber angesehene Kinderbuchpreise erhielt), handelt im Kern von Angst. In einer geschickt verwobenen Mischung aus philosophischer Parabel, Märchen und Kriminalgeschichte erzählt die Ich-Erzählerin aus der Distanz von acht Jahren von dem vergeblichen Versuch einer Schulklasse, ihre Angst ganz einfach wegzuwischen. Vergeblich selbst nach acht Jahren: die damals gefundene Bedeutung bleibt ein Placebo, Einsichten sucht man in der kalten Stimme der Chronistin vergeblich.

Im Grunde handelt es sich bei der Suche nach der Bedeutung, die Pierre Anthons Beharren auf dem Nichts obsolet machen soll, um nichts anderes als einen kollektiven Amoklauf. Eltern sind, bis das Ganze auffliegt, nicht in Sicht, Regeln entpuppen sich als leere Hülsen. Was da an Bedeutung angesammelt (abgehackt, ausgegraben, heruntergerissen) wird, hat meist vor allem dann Bedeutung, wenn es eine Grenze überschreitet – im Grunde also beweist, dass Regeln da sind, um gebrochen zu werden. In diesem Buch, das auf einem Grat irgendwo zwischen Jugendbuch und Roman (auch für Erwachsene) wandert, geht es zu wie in einem Film von Lars von Trier. Denn die Jungen und Mädchen der Klasse 7a treten in einen Wettbewerb ein, in dem es darum geht, einander im Erfinden der immer „krasseren“ Opfer zu überbieten. Das Krasseste, Böseste, Radikalste ist grade gut genug, um zu beweisen, dass es die Bedeutung gibt – und nicht Nichts. Werte sind Ideen, die in dieser Bewährungsprobe ihren Wert verlieren, verlieren müssen.

Um der Eskalation oder Nihilisierung in den Köpfen ihrer Protagonisten folgen zu können, muss Teller Tabus brechen. Indem sie das gekonnt und weitgehend kommentarlos macht, gelingt ihr zweifelsfrei eine immens spannende, schockierende Erzählung über die Abgründe in unseren Köpfen wie über die Dynamik einer Gemeinschaft. Man lese parallel René Girards Das Opfer und die Gewalt, um zu erkennen, was die Autorin hier ins Genre des Jugendbuchs übersetzt.

Nur bei der Auflösung (oder Abwicklung) der Geschichte im letzten Drittel verliert das Buch an Dichte und Schlagkraft. Indem die Vergeblichkeit des Versuchs, das Nichts zum Schweigen zu bringen, in den weltweiten Kunstmarkt führt (zumindest beinahe), wird die so konsequente Versuchsanordnung auf ein gleichermaßen lehrstückhaftes wie parodistisches Niveau gehoben, das den absurden und daher auch – ja – komischen Grund dieses Buches verschluckt. Mut zum Witz – und das schmale Bändchen wäre noch um einiges verstörender ausgefallen. Schließlich ist das Nichts ja nicht Nichts.