Sind wir noch zu retten?
Zum neuen Buch von Harald Welzer
1
Wir wissen, dass es so nicht weitergeht,
wissen aber nicht, wie’s gehen könnte …
Sang Gerhard Gundermann Ende der 1980er Jahre. Da war eine Gesellschaftsform schon lange an ihr Ende gekommen, stand aber, nach außen zumindest, immer noch wie eine Eins. Seitdem muss der Zusammenbruch des Ostblocks immer wieder als Beispiel dafür herhalten, wie
“Systeme lange über ihr eigentliches Verfallsdatum hinaus weiterexistieren können, um dann wie ein von Termiten ausgehöhltes Haus geräuschlos zusammenzubrechen” (Harald Welzer).
2
Ein Vierteljahrhundert später hat uns die Geschichte endlich wieder ein: Das Ende der Geschichte haben wir erstmal links liegen gelassen, um erschrocken festzustellen, dass sich sein Widergänger, das Ende der Geschichte, aus der fernen Zukunft immer schneller auf uns zu bewegt.
Wir wissen, dass es so nicht weitergeht … - können aber glücklicherweise Trost, Aufmunterungen und Erklärungen finden. Denn der Kapitalismus, die klügere Gesellschaftsform, zeigt sich offen und flexibel, umarmt seine Gegner, integriert alle Kritik, ja: befeuert die Kritiker. Macht nur! Schreibt kluge Analysen! Empört Euch! Was mich nicht umbringt, macht mich reicher.
Der Kapitalismus, krisengeschüttelt zwar und, im wahrsten Sinn des Wortes, bodenlos, beschert uns nach dem Sturm von Empörungs-Manifesten, die sich ja ganz gut verdauen ließen, nun einen wahren Tsunami der Kapitalismus-Kritik in Feuilleton und Buchhandel.
Und wir: wissen weiterhin nicht, wie es gehen könnte, haben aber zumindest was zu denken. Und was zu tun.
3
Das neue Buch von Harald Welzer, pünktlich zum Frühling im Fischer-Verlag erschienen, reiht sich in die täglich länger werdende Liste der Sachbücher ein, die sich mit den Grenzen und daraus ergebenden Gefahren unserer Lebensweise befassen.
Wie bei Niko Paech (lesenswert: Befreiung vom Überfluss) geht es um eine Ökonomie, die den Glauben an das Wachstum hinter sich lassen muss, weil Wachstum niemals grün bzw. nachhaltig sein kann. In bester Nachbarschaft zu Edward und Robert Skidelsky (Wie viel ist genug) beschreibt Welzer eindringlich, wie der Begriff des guten Lebens in der Gegenwart an eine Kultur des Immer Alles, der permanenten Verfügbarkeit von immer mehr Möglichkeiten, gebunden ist und welche problematischen Alliancen Sinn und Kaufbarkeit eingehen.
Deshalb bemerken die allerwenigsten Menschen, dass sie aktive Teile einer Kultur sind, die permanent ihren Ressourcenbedarf erhöht, obwohl sie ihrem Selbstbild nach längst “grün”, “nachhaltig” oder gar “klimabewusst” ist.
Harald Welzer liefert einen oftmals beißenden, reflektierten Rundumschlag gegen so ziemlich alle Aspekte unserer expansiven Kultur. Während des Lesens bekommt man den Eindruck, man säße - wie Balduin, der Sonntagsfahrer - mit seinem Auto (mit was auch sonst) in einem Baumwipfel fest, während der Sturm am Baum zerrt. Nur eine Frage der Zeit, bis der Stamm nachgibt.
Im Wissen, dass die Zeit knapp und kostbar ist, klammert man sich an das Buch, das dann auch noch den bescheuerten Titel Selbst Denken trägt, an den man doch so gerne glauben möchte.
4
Der Kapitalismus gießt Öl ins Feuer des menschlichen Verlangens, sagen die Skidelskys. Auch aus dem Verlangen der Menschen, die Welt und (oder?) sich selbst zu retten, lässt sich noch Profit schlagen. Das Verlangen, die Welt zu retten, kommt schließlich gleich nach der Sehnsucht nach Sinn, Abwechslung und Abenteuer. Wo ist die nächste Kampagne für eine bessere Welt? Welche App macht mein Smartphone noch nützlicher im Kampf gegen das allgenwärtige Übel? Und was kostet nochmal das Buch?
5
Das Buch kostet natürlich nicht die Welt. Es wird sie aber auch nicht retten. Und die Rettungswege werden wohl kaum breiter oder gar kürzer, wenn man sie mit der Bibliothek der kritischen Stimmen pflastern kann.
Selbst Denken, das heißt, frei nach Harald Welzer: Zu erkennen, dass ich über die Lösung für die Probleme dieser Welt schon lange verfüge. Dass ich dazu nichts brauche, was außerhalb von mir ist. Dass die Lösung nichts ist, was sich konsumieren lässt. Dass ich selbst Problem und Lösung bin.
Ich selbst bin das Problem, das gelöst werden muss, wenn unsere Welt zukunftsfähig werden soll.
Besser hat das noch niemand auf den Punkt gebracht.
6
I’ve seen what I was
I know what I’ll be
I’ve seen it all
there is no more to see,
legte Björk der erblindenden Selma in Lars von Trier’s Dancer in the Dark in den Mund.