Kindheitslektüre
Kein Romananfang, an den ich mich besser erinnere. Sofort das Bild der dazugehörigen Illustration aus der alten Kinderbuch-Ausgabe wieder im Kopf, läuft die Szene ein erneutes Mal ab, wie Tante Polly, die alte Dame mit der Brille, die sie „nur aus Stilgründen“ trägt, den ihr anvertrauten Bengel Tom Sawyer sucht – und der ihr mit einem seiner verflixten Tricks entwischt.
Es ist der Beginn eines Romans, der einen mächtig überrascht. Fragt man sich doch auf vielen der 600 Seiten von Tom Sawyer & Huckleberry Finn, wie man das als Kind hatte lesen können – und vor allem hatte lesen dürfen. Denn die beiden Romane (1876 und 1884) sind zunächst einmal ein Lehrstück für den von der Literaturwissenschaft erfundenen Begriff der „doppelten Adressierung“. Und wenn es schon nicht die Qualität der Neuübersetzung von Andreas Nohl ist, die einen von der ersten bis zur letzten Seite in den Bann zieht, so ist sie doch ein willkommener Anlass, die Lektüre seiner Kindheit neu zu entdecken.
Natürlich trägt die schlanke, flüssige Übersetzung ihren Teil dazu bei, dass man Tom Sawyers & Huckleberry Finns Abenteuer dermaßen verschlingt, als hätte es in der Zwischenzeit nie eine spannendere Lektüre gegeben. Nah am Original, gelingt Andreas Nohl ein übersetzerisches Meisterwerk, dass von seiner konkreten, der Ausschmückungen freien Sprache ebenso lebt wie von der Reichhaltigkeit der Sprechweisen irgendwo in Amerika, die so wohl noch nie ins Deutsche transportiert wurden. Das Buch liest sich weg wie nichts – und ist so verdammt eindrücklich und intensiv, dass man sich fragt, ab welchem Alter man es seinem Kind mit ins Bett gibt.
Denn die so lustigen Jungenspäße am Beginn der Abenteuer um die beiden Jungen verblassen bald angesichts der Halbwelten und Verbrechen, angesichts von Rassismus und Gewalt, die die Lebenswelt der Kinder Mitte des 19. Jahrhunderts prägen – und in die beide immer wieder, halb freiwillig, halb erzwungen, hinein gezogen werden. Zwischen den rabiaten Methoden des Zahnziehens und dem Eifer um die erste, jugendliche Liebe, zieht es Tom Sawyer in eine Kriminalgeschichte ersten Rangs, die von Mark Twain nicht nur realistisch geschildert, sondern mit Anleihen und Parodien aus der populären Abenteuer- und sonstigen romantischen Literatur seiner Zeit dermaßen angereichert wird, dass es einem schon mal flau im Magen werden kann. Und man schnell das nächste Kapitel aufschlägt. Denn nicht vergessen: dies hier ist spannender – und wirklicher – als jeder Fernsehkrimi.
Der Realitätsgehalt von Twains Werk kommt dabei natürlich aus der Kenntnis seiner Zeit, vor allem aber: aus einem ungeheuren Gespür für jugendliche Phantasie- und Lebenswelten. Tom Sawyer liest viel und gerne und versteht nicht die Hälfte davon, das merkt man schnell. Denn er erspinnt sich eine Realität aus Ritterroman, Gruselgeschichte und Abenteuerbuch, die gegen jede Verunsicherung gefeit ist. Auf die Spitze getrieben mit der unsäglichen Befreiungsaktion des eigentlich schon freien Niggers Jim, die Tom mit allem versieht, was zu der legendären Befreiung eines Gefangenen gehört, begegnet einem hier nichts weniger als das eigene Denken, das einstige Begreifen und Entdecken von Welt mit den Mitteln der Phantasie.
Das ist die eigentliche Größe dieses Werkes: das Vermessen der Erlebenswelt von Jugendlichen. Die Macht von Phantasien, den Trotz, die Neugier, die Freude, die Angst, all die inneren Spannungen und diesen wahnsinnigen Lebens- und Abenteuerdurst wahr- und dann so ernst zu nehmen, dass man als Erwachsener sich selbst und seinen Kindern begegnet, dass es eine reine Freude ist.
Aber das Meisterwerk geht weiter. Vor allem in der späteren Fortsetzung um Huckleberry Finns Abenteuer zeigt sich Twain als Chronist der amerikanischen Wirklichkeit zwischen Rassismus, Vergnügungssucht und Lynchjustiz. Auf Hucks und Jims langer Reise den Mississippi herunter, auf der Flucht vor dem grausamen Vater und der drohenden Sklaverei, begegnen ihnen [nbsp]Aufschneider, Verbrecher, Familienkriege und Naturgewalten. Der Roman entwickelt einen Realismus im Breitwandformat. Den äußerlichen Abenteuern und der maßlosen Komik der sich ergebenden Situationen steht im Kern ein Konflikt gegenüber, der mit der Frage nach Gleichheit und Ungleichheit, nach Freiheit und Macht vage umrissen sein dürfte. Wie Huckleberry Finn zwischen gesellschaftlich aufoktroyierter Moral und eigenem Gewissen zerrissen wird, wie er mit sich kämpft, ob er dem entlaufenen Nigger bei seiner Flucht helfen oder ihn nicht selbst verraten soll – das ist ganz großes Kino. Die Leinwand die Welt in ihrer ganzen Breite, in ihrer Schönheit und erdrückenden Übermacht – und den Fokus hat der Held, ganz auf sich gestellt. Der Held, der natürlich keiner ist, ist in diesem Fall noch ein Kind. Und die Kinder zeigen es der ganzen Welt. In diesem Buch auf jeden Fall.