James

Percival Everett: James. Hanser 2024

Nicht zufällig galt eine der ersten Buchbesprechungen auf diesem Blog den Abenteuern von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Die beiden Bücher von Mark Twain waren treue Begleiter meiner Kindheit, wieder und wieder gelesen, zuletzt vor nun 15 Jahren in der Neuübersetzung von Andreas Nohl, allein der Anfang, wie damals geschrieben, ein Erinnerungen wachrüttelnder Weckruf: "Tom! TOM!"

Klar, um Tom Sawyer geht es nun in dieser neuen Erzählung der Abenteuer um Huck Finn nicht: im Zentrum steht James, der als Jim bekannte Sklave, der bei Mark Twain auf seiner Flucht von Huckleberry Finn unterstützt und, ja, auch fast verraten wird. Percival Everett hat die Geschichte nun neu erzählt – aus Sicht des flüchtenden Sklaven. Die schon bei Twain angelegte Gesellschaftskritik, das erschütternde Bild systemischen und alltäglichen Rassismus wird noch um einiges verschärft, da kein weißer Junge der Erzähler ist, sondern der farbige, versklavte Mensch, getrennt von seiner Familie, besitzlos, rechtlos und, wenn man es realistisch betrachtet, auch fast chancenlos.

Ist Jim, der sich hier selbstbewusst den Namen James gibt, bei Mark Twain als einfältiger, kindlicher Mann gezeichnet, der für die Freiheit sein Leben riskiert, aber eigentlich keine Chance hat, so lernen wir hier einen klugen, mit allen Wassern gewaschenen Charakter kennen, dessen aussichtloser Kampf umso nachvollziehbarer wird. Das nutzt Everett nicht nur für spannende, dramatische Szenen, sondern auch für geradezu köstliche Komik. Denn die bei Twain mehr oder weniger unfreiwillige Einfältigkeit des schwarzen Sklaven entlarvt Everett als Theater: Jim spielt den Dummen, wie es im Klappentext heißt: Es wäre zu gefährlich, wenn die Weißen wüssten, wie intelligent und gebildet er ist.

Und so weiß Jim besser, als die Weißen ahnen, das Spiel der Weißen zu durchschauen und für seine Zwecke zu nutzen. Auch Tom Sawyer und Huckleberry Finn kommen da nicht sonderlich gut weg, sind sie doch letztlich auch nur Vertreter der weißen Gesellschaft. So gesehen ist auch die Freundschaft von Huck und James ein unwahrscheinliches Ereignis, dem James lange nicht vertrauen kann. Ein Ergebnis dieser Vorsicht ist das von Everett genial inszenierte Spiel mit der Sprache. So erteilt James seiner Frau, von der er bald darauf getrennt sein wird, Ratschläge, wie sie mit ihrer Herrin sprechen solle:

"Probier's mit 'wo ich'", sagte ich. "Das wäre die korrekte falsche Grammatik."

Die falsche Grammatik ist eine Maske, die die Farbigen schützt. Eine Maske, die James auch gegenüber Huckleberry Finn erst ganz am Schluss fallen lassen wird:

" Die Weißen erwarten, dass wir auf eine bestimmte Weise klingen, und es kann nur nützlich sein, sie nicht zu enttäuschen."

Dass James lesen kann, dass er einen Bleistiftstummel klaut, für den jemand anderes zu Tode gepeitscht wird, dass er die Philosophen der Aufklärung liest und mit ihnen über Freiheitsrechte diskutiert – all das sind wohlgehütete Geheimnisse. Während Everett in weiten Teilen der von Mark Twain in Huckleberry Finn erzählten Geschichte folgt, wechselt er eben nicht nur die Erzählperspektive, sondern deckt eine gänzlich andere Sicht auf die Ereignisse auf. Das ist nicht nur hochspannend und erschütternd aktuell, sondern angesichts der Diskussion der letzten Jahre um die Zulässigkeit rassistischer Sprache in älteren literarischen Werken längst überfällig. Statt nur über die Betroffenen zu sprechen, kommen sie hier selbst zu Wort – und erzählen ihre Geschichte selbst. Eine faszinierende Relektüre und eine unwiderstehliche Einladung, auch Mark Twain gleich noch einmal zur Hand zu nehmen.