Die Selbstüberschätzung des Einzelnen (und die Probleme der Anderen)
There is no such thing as society. (Margaret Thatcher)
Als ich letztens in einem Post die Frage stellte, warum alle Steuerzahler eine Institution subventionieren sollen, die nur 10% der Steuerzahler nutzen, und mich selbst mit meinem theaterwissenschaftlichen Überbau auseinandersetzte, gab Tilo Kießling auf Facebook eine erschreckend einfache Antwort:
solange diese 10% einen querschnitt der bevölkerung darstellen und die anderen 90% adäquate andere förderung erfahren: warum nicht. zudem haben viel mehr menschen einen indirekten nutzen.
Erschreckend einfach: Diese Grundannahme, dass unsere Gesellschaft nicht nur aus auf ihren eigenen Nutzen, ihre eigenen "Zahlen" im Blick habenden Einzelwesen besteht. Allerdings: in dem Maße, in dem (Selbst-) Optimierung und Effizienz gedacht und in die Tat umgesetzt wird, sei es, weil es dem "gesellschaftlichen Trend" entspricht oder durch Technologien ermöglicht wird, scheinen kulturelle Errungenschaften, die einen Horizont jenseits des um seine Existenz oder um den Erhalt seines wohlfahrtgeschädigten Lifestyles ringenden Individuums eröffnen, zunehmend an Halt oder Legitimation zu verlieren.
Banal: Wozu brauche ich ein Theater, das von einer gesamten Gesellschaft am Leben erhalten werden muss, wenn ich mir mein Unterhaltungsprogramm via Streaming (am besten noch praktisch kostenfrei) in die eigene Bude holen und politische Meinungsbildung durch die Filter Bubble von Facebook & Co. ohne Probleme möglich ist?
Von Steuern und Zwangsabgaben
Ich fühle mich dieser Tage zunehmend an Gedanken aus David Foster Wallace's Der bleiche König erinnert, wie dem,
dass es in der Natur eines demokratischen Bürgers liegt, ein Blatt zu sein, das nicht an den Baum glaubt, an dem es hängt.
Das Buch hat damals tatsächlich meine Einstellung zum Zahlen von Steuern ein Stück weit umgekrempelt:
Ich sage ja nicht, es ist ihre Pflicht, Steuern zu zahlen. Ich sage nur, es hat keinen Sinn, keine zu zahlen. ... Ich verstehe, dass sich Steuerzahler nicht von ihrem Geld trennen wollen. Das liegt in der Natur des Menschen. ...Sie sitzen mit anderen Menschen in einem Rettungsboot und es gibt nicht genug Lebensmittel, und die müssen geteilt werden. Sie reichen nicht, aber alle müssen was abbekommen, und alle haben großen Hunger. Sie wollen natürlich das ganze Essen für sich; Sie sind am Verhungern. Aber allen anderen geht es genauso. Wenn Sie alle Lebensmittel aufessen würden, könnten Sie sich im Spiegel hinterher nicht mehr in die Augen schauen."
David Foster Wallace ist natürlich intelligent genug gewesen, die ganze Geschichte zu erzählen (und an ihr zu scheitern): wie im emanzipierten Bürger von Anfang an die Distanz zu dem von ihm beauftragten Staatswesen angelegt ist; und wie dieses Staatswesen in großem Maße daran scheitert, die von ihm selbst zur Emanzipation (oder heutzutage: zur Selbstverwirklichung, Optimierung, zum Denken an den eigenen Nutzen) aufgerufenen Bürger in einem Großen, einem Ganzen zu integrieren. Denn natürlich: Auch wenn jeder seine Steuern zahlt, heißt das ja nicht, dass dabei zwangsläufig etwas herauskommt, dass im Sinne aller ist.
Ähnlich ist es mit dem Kampf gegen die GEZ-Zwangsabgabe. In den sozialen Netzwerken sind Petitionen und Initiativen gegen diese vermeintliche Einschränkung der individuellen Freiheit derart präsent, dass ich angesichts solcher Engstirnigkeit nicht selten den Drang verspüre, meine Internetverbindung zu kappen. Dabei besitze (und nutze) ich selbst weder Fernsehen noch Radio. Der Punkt aber ist: ich schaffe mit ein paar Euro zumindest die Möglichkeit eines Programms jenseits von Sing meinen Song und Formatradio. Ein paar Euro, die ich gern für Vielfalt und kulturelle Offenheit lasse - jenseits des Anspruchs, das müsse meiner Erwartung entsprechen.
Von Griechen und Flüchtlingen
Warum mich das so sehr bewegt? Weil diese Bewegung der Vereinzelung und Abschottung auch jenseits der Staatsgrenzen ihre Konsequenzen hat. Weil wir glauben, wir hätten nichts mit dem Zusammenbruch des griechischen Staatswesen zu tun. Weil wir es für unser Recht erachten, uns gegenüber den Flüchtlingsströmen von jenseits des Mittelmeers abzuschotten. Weil die nichts mit uns zu tun haben; der in Asien produzierte Turnschuh darf ruhig übers Mittelmeer, aber Asylantenheime in unserer Nachbarschaft? Bitte kippt die Probleme der ganzen Welt irgendwo weit weg aus, nur nicht hier. Wir nehmen doch virtuell teil - reicht das nicht?
Es ist ganz einfach: Wir sind gemeinsam, oder wir sind irgendwann nicht mehr.