Das weiße Album

oder: The Leipzig Years

Ja
das ist jetzt
der einzige Zweck
alles
um uns herum ist weg

Ich auf dem Leipziger Augustusplatz, Sommer 2002. Im Minidisc-Player immer dieselbe Platte. Das tighte Schlagzeug. Die kraftvollen Gitarren. Die dichten poetischen Texte. Noch waren Tocotronic ganz Subkultur, noch war da nichts Pose, aber alles glänzte. DAS WEISSE ALBUM, hervorgegangen aus einer für die Band ungewöhnlich langen Phase der Studioarbeit, war wie weißes Rauschen, wie ein weißes Blatt Papier, wie eine noch unbeschriebene Sehnsucht. Das Album war vielleicht – neben den unverzichtbaren Blumfeldder Soundtrack meiner Leipziger Jahre – vom unverkennbaren Eröffnungsriff bin hin zur Anti-Hymne NEUES VOM TRICKSTER praktisch ohne einen schwachen Moment.

Du liegst neben mir und dann
blicken wir uns an

In diesem FREE HOSPITAL, dessen Wände mit "Mustern" u.a. von Alain Robbe-Grillet tapeziert waren, traf ich auf die noch unbekannte Liebe, die mich durch die Zeilen hindurch ansah:

deine Augen sehen
was meine Augen sehen
This boy is Tocotronic

Dabei war nichts so falsch wie das. Ich als überzeugter Tocotronic-Verächter der ersten Stunde war alles, nur eben nicht TOCOTRONIC, keiner der "Freaks". Was war geschehen?

Aus Soundflächen, Gitarrenwänden, Popkultur-Zitaten und einer mit Mehrdeutigkeiten und Rätseln spielenden, sich permanent entziehenden Sprache hatten die (damals noch) drei Jungs aus (damals noch) Hamburg ein Album produziert, in dem sich wohnen ließ: hell ausgeleuchtet zwar, aber doch romantisch; cooler, als es jede Trainingsjacke sein kann, und dennoch warmherzig und voller Hingabe; mit Textlandschaften, die um griffige Slogans nie verlegen sind, in denen jede Kurve aber nur zu einer weiteren Kurve (und einer weiteren und weiteren) führt, so dass man fast eine Ahnung von Unendlichkeit bekommen kann – und das bei größtmöglicher Intimität. Anspielungsreich, dicht und dennoch eigentlich ganz simpel und elegant: mit diesem paradoxen Album durfte ich mich intelligent und sexy zugleich fühlen. Noch heute durchfährt mich mit dem Erklingen der ersten Akkorde eine Lebensfreude, die von jedem weiteren Song nur genährt wird.

Führe mich sanft.
Es ist alles so einfach.

War wirklich alles so einfach? Das WEISSE ALBUM ist auch irgendwie die Musik eines Anfangs. "Die Weichen sind gestellt in einer Welt, deren Umriss uns gefällt." Da schwingt jede Menge Optimismus und Zuversicht mit: nicht nur, dass es endlich losgeht, sondern auch, dass es in die richtige Richtung geht. Wenn wir uns berühren ("dort wo die Linien sich verwirren"), wird ALLES IN FLAMMEN STEHEN. Natürlich galt all unsere Abscheu der "Dringlichkeit", vor der die "Älteren" so überzeugt schienen und mit der wir nichts am Hut hatten. Wir wollten anders sein "als die Leute in ihren Büros" (Blumfeld), das schworen wir uns und freuten uns – spätnachts und etwas bekifft – über die endlos sich schraubenden Sätze in SCHATTEN WERFEN KEINE SCHATTEN. Was auch immer geschehen ist: fast zwanzig Jahre später hat die Wirklichkeit dieses Album noch immer nicht eingeholt.

Wir müssen uns verschwenden
an die Sache die viel größer ist
als wir verkraften können.

Der Kampf geht weiter.