1. Mai, Tocotronic dabei
Vogelgesang in den Bäumen vorm Fenster. Die Sonne kitzelt dich an der Nase, du öffnest die Augen, geblendet, die Sonne scheint dir ins Gesicht. Der Mai ist da. An dem Tag, an dem traditionellerweise demonstriert wird, erklingen heute Liebeslieder. Oder, ist da ein Unterschied, Lieder über Liebe? Tocotronic ist mit ihrem elften Album nicht nur, aber auch ein glänzender Marketing-Coup gelungen.
Leere des Himmels. Leere des Absoluten. Unendliche Leere, die das Hier und Jetzt der einen Welt markiert, ihre Wahrheit, die in keiner anderen Wahrheit gründet.[^1]
Das in dieser Leere seiner Kontingenz überantwortete Subjekt, so der Philosoph Marcus Steinweg, kann sich vorbehaltlos und blind der Leere anvertrauen, sich: ins Offene stürzen.
Liebe wird das Ereignis sein,
weiß das „Subjekt“ des Roten Albums am Ende des Songs Prolog: eine Stimmung, ein Gefühl, eine Ahnung steht am Anfang der Reise, die hier beginnt. Es ist das Abenteuer von einem der auszog, seine Grenzen zu öffnen. Die eigene Empfindlichkeit katapultiert ihn aus der herrschenden Logik von Wettbewerb und Konkurrenz heraus. Gegen den Strich. Meilenweit. Sternenhoch. Ein Rebel Boy stiftet Solidarität. Denn: Zusammen können wir / nach draußen gelangen.
Die Liebe trägt das Subjekt über sich hinaus; es beginnt die Erfahrung der Brüchigkeit seiner Identität zu machen.
Mitreißend der Soundtrack zu dieser Geschichte: irrlichternd, schwindelnd und doch von nahezu stadiontauglicher Klarheit und Kraft. Sich gegen sich selbst zu verschwören, zu kapitulieren und sich in tiefster Dankbarkeit im Anderen zu verlieren: die Ansätze der letzten Alben werden (wieder einmal) weiter entwickelt; so verführerisch, so leicht, so selbstverständlich klangen Tocotronic indes nie. So schön.
Die Erfahrung der Liebe kann nur Erfahrung der Freiheit sein,
schreibt Steinweg, und mit diesem Gefühl nimmt einen „das rote Album“ mit nach draußen, in den Frühling. Das Unvorsehbare, das Offene, hier wird’s Ereignis; ein Ereignis, das das Subjekt übersteigen, sprengen, befreien wird - und vom Anderssein als „Überschuss“, von der "universellen Ungereimtheit" als Potenzial zu künden weiß (Steinweg). Natürlich: das hat auch eine politische Dimension. Und selten klang das Politische so lebhaft und großartig wie an diesem 1. Mai.
Was ist denn Liebe anders als verstehen und sich darüber freuen, dass ein Andrer in andrer und entgegengesetzter Weise, als wir, lebt, wirkt und empfindet?[^2]
[^1]: Dieses Zitat und folgende aus: Marcus Steinweg: Aporien der Liebe. Merve Verlag Berlin 2010.
[^2]: Aus Friedrich Nietzsche: Menschliches Allzumenschliches.