Seht mich an
Ich lasse mir gern Bücher empfehlen. So folgte ich unlängst einem Tipp von Daniel Schreiber, der mit seinem Essayband Allein zuletzt eine kluge, sehr persönliche und intensive Auseinandersetzung mit dem Leben ohne Partner und Familie veröffentlicht hat: dieses sei in unserer Gesellschaft, so zeigte er, immer noch die Ausnahme von der Regel oder eben auch die Verletzung einer unsichtbaren Norm.
Auf diese Weise liest Schreiber auch den nun neu aufgelegten Roman Seht mich an der britischen Schriftstellerin Anita Brookner:
"Brookners Röntgenblick macht klar, dass trotz aller gesellschaftlichen Veränderungen die Zweisamkeitsgrammatik unserer Kultur so wirksam ist wie je zuvor,"
so Schreiber, der Anita Brookner nicht nur sehr verehrt, sondern diesen Roman, ursprünglich 1983 erschienen, als erschütternde Lektüre beschreibt: "Seht mich an ist ein Roman über das Nicht-Erkannt-Werden, über die Verzweiflung des Nicht-Gesehen-Werdens, der wahrscheinlich schmerzhaftesten Form von Einsamkeit."
Im Mittelpunkt des Romans steht wie so oft bei Brookner eine gut situierte, allein lebende Frau, aus deren Perspektive die ziemlich überschaubare Handlung erzählt wird. Fanny, so ihr Name, arbeitet in der Bibliothek eines Forschungsinstituts, das sich vor allem mit psychischen Erkrankungen beschäftigt. So kann Fanny Seiten über die Melancholie und über Geisteskrankheiten schreiben; und das Schreiben stellt neben der recht kontaktarmen Erwerbsarbeit die zweite Beschäftigung dar, mit der Fanny ihre Tage verbringt. Sie lebt allein mit der Haushälterin ihrer gestorbenen Mutter in der geerbten Wohnung. Soziale Kontakte pflegt sie nur wenige, diese aber eher aus Pflichtgefühl und diszipliniert an Ritualen festhaltend.
"Ich bin noch ziemlich jung, und ich bin mir bewusst, dass ich ein langweiliges Leben führe."
In dieses einsame, vorhersehbare Leben kommt Bewegung, als Fanny von dem lebensfrohen Paar Nick und Alix in die Londoner Gesellschaft eingeführt wird; Restaurantbesuche, Ausflüge und ein Spiel mit den gesellschaftlichen Konventionen bringen Hoffnung auf Veränderung – und dann kommt als viertes James ins Spiel, mit dem Fanny eine zarte Freundschaft beginnt ...
All das wird elegant, mit großer Geduld und geradezu umständlich von Fanny erzählt; selbst die leichtesten Geschehnisse aber verlieren in dieser Prosa, die immer wieder von um größte Genauigkeit bemühte Selbstreflexionen unterbrochenen wird, ihre Leichtigkeit. So sehr man es ihr wünscht, man ahnt, dass Fanny die unterschwellig ersehnte – aber immer von sich geschobene – Befreiung aus dem engen Korsett ihres Daseins nicht erleben wird.
Anita Brookner, die von 1981 bis 2009 fast im Jahrestakt einen Roman veröffentlicht hat, nimmt sich viel Zeit für diese kleine, aber so bewegende Geschichte. Sie schreibt brilliant und immer ganz auf der Seite dieser leisen, missverstandenen Frau – und das macht die Lektüre mit zunehmender Seitenzahl so grausam. Wie bekannt kommen mir manche Verhaltensweisen vor, mit denen Fanny ihr Innerstes vor dem Zugriff der Gesellschaft zu schützen versucht, wie sie sich vor Schmerzen förmlich krümmt und dennoch aufrecht zu gehen vorgibt. Wie sie vor Sehnsucht vergeht – und nichts anderes weiß als sich zurückzuziehen.
"Ich gäbe meine gesamte Produktion von Worten hin, von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, wenn ich dafür einen leichteren Zugang zur Welt bekäme und wenn ich sagen dürfte: 'Das tut mir weh – das mag ich nicht – das will ich will haben.' Oder auch nur: ’Seht mich an!’"