Ich sagen

Meine Bücher des Jahres

In den zurückliegenden Monaten entdeckte ich ein Genre wieder, zu dem eine schmale Lücke zwischen den oftmals gesprächig dicken Belletristik-Bänden im Bücherregal führt; einmal hindurchgeschlüpft und hinter den Büchern aus der ersten Reihe stehend, sieht man sich plötzlich angesprochen von unaufgeregten, klaren Stimmen, die von sich selbst sprechen, von der Suche und dem Finden, dem Fragen und Erinnern. Eine Reihe schmaler Bände mit (nennen wir es mal) persönlicher Essayistik bleibt mir von diesem Buchjahr mehr als alles andere in Erinnerung – vielleicht weil die Autor*innen dieser Bände mich in der Zeit großer persönlicher Veränderungen auf Augenhöhe, ohne Blatt vor dem Mund, ansprachen: als Wegbegleiter*innen, als Inspiration, als Gesprächspartner*innen.

Betrachtungen einer Barbarin

Da sind die Betrachtungen einer Barbarin von Asal Dardan (Hoffmann und Campe 2021). Als Kind iranischer Eltern in Deutschland aufgewachsen, folgt sie in kurzen persönlichen Essays ihren Lebenswegen, auf denen sie immer irgendwie am Rand zwischen Heimat und Fremdheit, vermeintlicher Normalität und Anderssein balanciert. Ob sie über ihre Kindheit oder ihre Internatsjahre, über den NSU-Prozess in Deutschland oder den Rassismus in Atlanta schreibt – immer erfährt sie sich selbst als Fremde, die umso vehementer darauf insistiert, gerade als Fremde gleichberechtigt dazuzugehören. Die Humanität und Modernität einer Gesellschaft nämlich zeigt sich letztlich darin, wie sie Andere (Frauen, Flüchtlinge, People of Color z.B.) nicht nur sein lässt sondern ihr Anderssein anerkennt, fördert, in die Gesellschaft holt. Asal Dardan lässt allen Seiten ihrer Identität ihre Stimme und schafft so einen bewegenden, authentischen, unverstellten Außenblick auf die (fremde) eigene Kultur – manches Aufschrecken und manch Erschütterung von scheinbar Selbstverständlichem ist garantiert.

Die Kunst zu lesen

"Ich lese so gern, weil ich Menschen darüber kennenlernen kann,"

schreibt Frank Berzbach – und tatsächlich kenne ich Frank Berzbach schon seit Jahren: über seine Bücher und seit einiger Zeit über seinen Instagram-Kanal. Nach zahlreichen Büchern und Blog-Beiträgen kommt es mir bei einem Tee mit dem Vinyl- und Büchersammler Berzbach so vor, als sprächen wir persönlich, unter Freunden miteinander. Dabei halte ich nur ein Buch in den Händen. In unserer langjährigen Beziehung wurde dieses Jahr ein neues Kapitel aufgeschlagen: In Die Kunst zu lesen (Eichborn Verlag 2021) versucht sich Berzbach als "literarischer Berater" – auf durchaus unkonventionellem Weg. Ihm geht es nicht um einen Kanon, sondern um eine persönliche Geschichte des Lesens, vollzogen anhand von Themen, die seit jeher Berzbachs Welt ausmachen: die Spiritualität, der Alltag, die Musik, der Tee etwa. Besonders erhellend und anregend sind Ausflüge zu Themen wie Hotels und Briefe oder das Kapitel zu der Frage, "wie man dicke Bücher liest".

"Lesen, wie ich es mir in seiner tiefsten Variante vorstelle, oszilliert zwischen Glauben, ästhetischer Empfindunge und Wissen."

Lesen und Schreiben als Gespräch unter Freunden, als Mittel der Versenkung und "Flucht in die Realität", als Grundlage des Wachsens und als Mittel der Welterkenntnis sowie nicht zuletzt, Berzbachs großes Thema, als hohe Form der Lebenskunst und Medium (analoger) Schönheit. Aus dem schön gestalteten Buch, das einen dauerhaften Platz neben der Teekanne verdient haben könnte, habe ich mir zahlreiche Anregungen und Inspirationen mitgenommen, die ich im neuen Jahr verfolgen werde.

Allein

Als "eins der wichtigsten Bücher, die jemals zu mir fanden", beschreibt Berzbach den Essay Zuhause von Daniel Schreiber. Just hat Schreiber dieses Jahr nachgelegt: Auf Nüchtern und Zuhause folgt nun der schmale, leichtfüßige aber ungemein schwergewichtige Band Allein (Hanser Berlin 2021).

Schreiber erforscht hier in 8 Kapiteln einen Zustand, den ich spätestens seit der Geburt unserer ersten Tochter nur als Sehnsucht kenne: das Alleinsein. Das Beeindruckende ist die Art, wie dem Autor das gelingt: Er verbindet in einfachen Sätzen, die so oder so ähnlich auch in einem entspannten Gespräch unter Freunden hätten fallen können, die individuelle Erfahrung von Alleinsein / Einsamkeit in den verschiedenen Phasen der Corona-Pandemie mit Lektüre-Eindrücken, soziologischen und philosophischen Reflexionen und der so riesig großen Frage nach dem geglückten Leben. Bei Schreiber wird all das erzählbar, denkbar, klar.

Das Alleinsein erscheint dem in Berlin lebenden Autoren als Abfall von der unhinterfragten gesellschaftlichen Norm (gerade an Weihnachten ja wieder gut erlebbar: das bürgerliche Familien-Ideal). Auf diese Erfahrung des Fremd- weil Alleinseins antwortet Schreiber mit einer umfassenden Betrachtung der Idee des "guten Lebens" – und mit der kraftvollen Würdigung einer anderen, zu Unrecht inflationär gehandelten Beziehungsform: der Freundschaft. Aus dem Auf und Ab der bisherigen zwei Corona-Jahre rettet Daniel Schreiber etwas, um das man zwischenzeitlich durchaus Angst haben musste: die Zuversicht. Sein Buch ist ein Lebensretter, nicht viel weniger. Und, so schließt sich der Kreis, "eins der wichtigsten Bücher, die jemals zu mir fanden".