Die Wiederentdeckung des Glücks
"Man kann nach Madagaskar kommen und es vergöttern – "
oder es hassen. So wie einer ihrer Protagonisten, der deutsche Arzt Terje Sandholz, kam auch die in der Nähe von Greifswald lebende Autorin Antonia Michaelis vor einigen Jahren nach Madagaskar. Zusammen mit ihrer Familie lebte sie zwei Jahre in der Nähe der Stadt Antsirabé. Im Lauf der Zeit hat sie gelernt, das Land und seine Menschen zu lieben. Während sie eine Schule und ein Kinderhaus aufgebaut hat, hat sie nicht nur zahllose Geschichten gesammelt sondern auch – man merkt das diesem Roman auf jeder Seite an - ihr Herz an das von Klimawandel und Kolionalismus gebeutelte, arme Land verloren. "Alles, was in diesem Roman steht, ist erfunden – und alles ist wahr", schreibt sie im kurzen Nachwort; und vielleicht ist das auch ein wenig das Problem.
Schon vor vielen Jahren lernten wir die Kinderbuchautorin Michaelis kennen und lieben: Ihr Buch über Die wilden Prinzessinnen nahm mit seiner ungebremsten, anarchischen Phantasie lange Zeit einen Spitzenplatz unter den Vorlesebüchern ein und ist für mich auch heute noch eines der tollsten, unübertroffenen Kinderbücher im Haus. Michaelis, die eigentlich Medizin studiert hat, entwickelte ihr Schreiben spürbar im Einklang mit der Entwicklung ihrer eigenen Kinder. Neben Bilder- und Vorlesebücher traten bald Bücher für Leseanfänger, erste Romane und später dann spannende, fantastische Jugendbücher – nicht selten mit dunklen Untertönen und "schwierigen" Themen. Dann ging Antonia Michaelis nach Madagaskar – und wir zogen im Sommer 2019 für zwei Wochen in das geräumige, mit Kostümen, Büchern und Spielen vollgestopfte Haus der Frau mit der großen Familie und dem großen Herzen: eine Wundertüte, so wie viele ihrer Bücher. Umso gespannter habe ich nun den Roman aufgeschlagen, der eine erste Aufarbeitung der Jahre in Madagaskar darstellt.
Die Wiederentdeckung des Glücks ist – soweit ich es einschätzen kann – der erste Roman von Antonia Michaelis, der sich eher an größere (erwachsene) Leser wendet. Entsprechend groß ist das Projekt. Vier Figuren werden auf verschiedenen Zeitebenen in ihrem Kreisen umeinander verfolgt: Da ist der deutsche Arzt, der in seinem Leben dreimal nach Madagaskar kommt – und dreimal auf den irgendwann zum Freund werden Cyclo-Pousse-Fahrer Biscuit trifft. Beide wiederum sind auf magische Weise mit einer wunderschönen Frau verbunden, die bald eine ebenso wunderschöne Tochter zur Welt bringt. Und eben jene Maribelle bildet ein Zentrum dieser über Jahrzehnte sich erstreckenden Erzählung. Ein Zentrum – leider nicht das einzige.
Denn irgendwie hat jede der Figuren auch ihre eigene Geschichte, ihre eigene Sehnsucht. Na klar: Jeder sucht sein Glück. In diesem Fall hat das immer irgendwie mit den anderen Figuren des Romans zu tun. Und so dreht sich die Erzählmaschine auf märchenhafte, wundersame Weise immer enger um sich selbst bzw. um die beiden Männer mit ihrer Sehnsucht bzw. Liebe zur zwar sehr behütet und begütert aufwachsenden, aber im Herzen unglücklichen Maribelle. Während Terjes Tochter Nora in den Randzonen der Stadt ihr Glück (in Form eines Duftes) sucht, entfaltet sich auf dem Hauptstrang ein Puzzle aus Romeo und Julia und Effi Briest, Sozialdrama, Krimi, Thriller und Liebesgeschichte in einem. Dazwischen: kleine und größere Geschichten aus der madagassischen Kultur, Details über Details, die sich vor der lokalen Tradition verbeugen und Lokalkolorit erzeugen. Dieses Märchen (denn um nichts anderes handelt es sich) wird zusammenhalten von der unbändigen Fabulierlust Michaelis', die irgendwann ihre Zügel sprengt – die Geschichte geht im Laufe des Romans einfach mit ihrer Autorin durch. Während das Märchenhafte überwiegt und die Wendungen und Überraschungen zunehmen, bleibt leider ein wenig die Glaubwürdigkeit des Erzählten auf der Strecke.
"Die Macht, einen anderen Menschen absolut glücklich zu machen, war wie ein Rauschmittel",
heißt es irgendwo im Roman. So ist es auch mit dem Erzählen: das Glück des Erzählens erzeugt in diesem Buch einen wahrhaften Rausch. Dahinter steht die Geschichte einer Europäerin, die in Madgaskar die Möglichkeit des Glücks wiederentdeckt hat – in einem Land, das bekannt ist dafür, alles zu recyclen. Weiß man um die aktuelle Lage des von Hunger und Trockenheit heimgesuchten Landes, erahnt man die Bedeutung und Macht der Fantasie. Selbst das Glück ist in Madgaskar ein gebrauchtes, so Biscuit – und Nora, das Alter Ego der Autorin, bringt es auf den Punkt:
"Recycling Land, hat Papa gesagt, sie recyceln hier alles, und es ist wahr, sie haben auch mich recycelt, ich bin etwas anderes, gemacht aus den Teilen meines alten Ichs. Glücklicher. Und trauriger."