Ein Jahr voller Wunder

Das Jahr beginnt mit Johann Sebastian Bach. In der ersten Woche folgen Frédéric Chopin, Hildegard von Bingen, Ludwig van Beethoven, Max Bruch, Francis Poulenc. Jeweils eine Seite widmet die britische Violinistin und Moderatorin Clemency Burton-Hill einem Werk der ausgewählten Komponisten, dazu gibt es eine Playlist auf ausgesuchten Streaming-Plattformen. Mit klassischer Musik für jeden Tag verspricht Burton-Hill den Leser*innen / Hörer*innen ein Jahr voller Wunder.

Klassische Musik fristete in meinem Leben bisher ein Schattendasein; sie war da, aber eher als stiefmütterlich behandelter Imperativ: dies und das sollte man kennen bzw. mal gehört haben. Irgendwie fehlte für die Beschäftigung mit dem älteren Teil der Musikgeschichte (sagen wir jenseits der 1950er Jahre) immer die Expertise, die Geduld, die Zeit. Clemency Burton-Hill nun behauptet, klassische Musik würde nicht Zeit kosten – sondern Zeit schenken.

Vielleicht brauchen wir gerade in Zeiten wie diesen mehr denn je einen Raum zum Innehalten, Nachdenken und Reflektieren, um mit uns selbst eins zu werden und einfach nur zu sein.

Soweit die Behauptung. Musik als "Stärkungsmittel für den Geist" – als "akustische Seelenpflege"? Das lässt sich einfach ausprobieren. Ob in den zurückliegenden Tagen Bach's Weihnachtsoratorium oder an einem nasskalten Winterabend eine der Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven, zum Beispiel in der bewegenden Neueinspielung von Igor Levit, ob Max Richter oder Nils Frahm: es lässt sich eine Musik entdecken, die die Sinne ungleich vielfältiger und intensiver anspricht als heutige, recht überschaubaren Songstrukturen und mehr oder weniger leicht zu entschlüsselnden Liedtexten gehorchende Popmusik. Die den Raum öffnet und die Zeit weitet und irgendwo eine Resonanz stiftet mit etwas, das man einst "Seele" nannte.

Dabei geht es Burton-Hill jedoch nicht darum, Klassik und Pop gegeneinander auszuspielen – eher arbeitet sie daran, Mauern einzureißen und Vorurteile zu überwinden. Schon die Auswahl der Komponisten – von Bach bis Frahm – macht das deutlich: Ein Jahr voller Wunder ist ein schönes Beispiel genre- und zeitenübergreifender Musikvermittlung. Wenngleich die kurzen Texte über Lieblingsstücke und -komponisten durchaus Geschmackssache sind. Sehr anekdotisch kommen sie daher, was vielleicht mit der Radio-Heimat der Autorin zusammenhängt. Hier hätte ich mir zumindest teilweise etwas mehr profundes Wissen oder gern auch den ein oder anderen inspirierenden, weil das Hören erweiternden Ausflug in die Theorie gewünscht.

Allerdings versteht sich dieses Buch ja eher als Reiseführer – zu entdecken gibt es eine schier unerschöpfliche Reihe von Sehens-, Verzeihung: Hörenswertem. Bei 366 Stücken warten eine Menge positiver Überraschungen. Garantiert. Und die Wunder des kommenden Jahres? Finden sich irgendwo zwischen den Ohren des /der Hörenden.

Clemency Burton-Hill: Ein Jahr voller Wunder. Klassische Musik für jeden Tag. Aus dem Englischen von Barbara Neeb, Ulrike Schimming und Katharina Schmidt. Diogenes Verlag 2019.