Ein neues Jahr voller Wunder
Bücher über "klassische Musik"
Ein neues Jahr voller Wunder
Es ist gerade mal vier Jahre her, da verhieß ein Beitrag auf diesem Blog Ein Jahr voller Wunder. Anfang 2020 war das. Gefühlt trennen uns Welten von der Zeit „damals“. Doch nicht nur deshalb grenzt es an ein Wunder, dass die Musikjournalistin und Violinistin Clemency Burton-Hill mit ihrer neuen Publikation nun Ein neues Jahr voller Wunder verspricht. Während der Arbeit an dem Buch erlitt sie eine Hirnblutung und lag siebzehn Tage im Koma – Ärzte vermuten, dass die Musik einen bedeutenden Anteil an ihrer Rehabilitation hatte.
Musik sei eine „Quelle der Hoffnung“, schreibt die genesene Burton-Hill in ihrem Vorwort: sie verbindet Menschen über Räume und Zeiten hinweg, sie verknüpft Lebensgeschichten, Privates und Gemeinschaftliches:
“Mit klassischer Musik verhält es sich ähnlich wie mit ansteckendem Gelächter oder mit unserem sich in alle Ewigkeit ausdehnendem Universum: Nichts hält sie auf.“
Clemency Burton-Hill hält an ihrem Konzept mehr oder weniger unverändert fest: Für jeden Tag des Jahres empfiehlt sie ein passendes Musikstück aus der tausendjährigen Tradition klassischer Musik – von Hildegard von Bingen bis Nils Frahm –, erinnert an Geburtstage und Todestage und erzählt kleine persönliche Geschichten, die einladen, auf Entdeckungsreise zu gehen. Der Schatz an musikalischen Neu- und Wiederentdeckungen in diesen nun glücklicherweise zwei Büchern ist kaum in Gänze zu erfassen. Wieder beginnt das Jahr mit Johann Sebastian Bach, wieder finden sich bekannte Klassiker wie Robert Schumann oder Ludwig van Beethoven – doch gerade in Sachen Neuer Musik hält Clemency Burton-Hill eine Menge an Überraschungen bereit: allein, was es in diesem Buch (und der dazugehörigen Playlist) an zeitgenössischer Chormusik zu entdecken gibt, macht glücklich!
Glück: das ist so ein Wort, dass mir zu klassischer Musik einfällt. Gerade in dieser wirren, hektischen Zeit sind mir diese Momente unschätzbar teuer geworden, in denen ich von der Musik in die Stille geführt werde. Das ist weniger eine Fluchtbewegung, als eine Reise zu einer Art Kraftort – und nichts benötigen wir, so scheint mir, in diesen Tagen mehr: als diese stille, beharrliche Kraft. Du kannst auch Hoffnung zu ihr sagen.
„Wie wunderbar sind deine Werke!“
Ähnlich wie die beiden Bücher von Clemency Burton-Hill ist auch dieses keines, das man an einem Stück liest. Auch wenn sich der Leipziger Bach-Spezialist Michael Maul auf einen Komponisten konzentriert, ist dieses schmale Bändchen so reich an musikalischen Entdeckungen, dass es nur „häppchenweise“ genossen werden will. Nach seiner Bildbiographie zu Johann Sebastian Bach legt der Leiter des Bachfestes nun einen ganz besonderen Band vor, der sich auf Bachs Leipziger Kantaten konzentriert. Nicht ohne Grund, immerhin feierte man im Jahr 2023 in der Messestadt ein Jubiläum, das 2024 fortgesetzt werden dürfte: 300 Jahre ist es her, dass Bach als Thomaskantor antrat, Woche für Woche und das mehrere Jahrgänge lang anspruchsvolle Kantaten komponierte, einstudierte, aufführte, und neben seinen sonstigen Tätigkeiten auch noch Großwerke wie das Weihnachtsoratorium, die Johannespassion (uraufgeführt Ostern 1724!) oder die Matthäuspassion schuf.
“Wie wunderbar sind deine Werke“, staunt Michael Maul und schreibt voller Begeisterung (und Expertise) seinen Band für die Insel(-bücherei). Ein fachkundiger, leidenschaftlicher und ungemein lesbarer Essay zu Bachs Schaffen in seiner Zeit als Thomaskantor.
“Was ich zu Bachs Lebenswerk zu sagen habe: Hören, spielen, lieben, verehren und – das Maul halten“,
so zitiert Maul den Nobelpreisträger Albert Einstein. Er folgt diesem Rat bewusst nicht. Stattdessen legt er all sein Wissen in die Waagschale, um seine Leser an der Faszination teilhaben zu lassen, die von Bach und gerade seinem kirchenmusikalischen Werk ausgeht. Dabei liefert er viele biographische und zeitgeschichtliche Einblicke, geizt aber auch nicht mit angewandter musikwissenschaftlicher Finesse. Und genau mit diesem Dreiklang gelingt es ihm, gezielt und ganz bewusst bestimmte Stücke aus dem unerschöpflichen Fundus von Bachs Werk hervorzuheben, die dank der eingerichteten Playlist auch schnell angespielt werden können – und sicherlich nur Türenöffner sind für eine Musik, die zu hören (oder gern auch zu singen) man kaum einmal fertig werden dürfte.
Denn Bach, so viel sei gesagt, ist ein verlässlicher Begleiter in so gut wie jeder Stimmung und Lebenslage. Das neue Werk von Michael Maul darf da gern jederzeit in Reichweite liegen – allzumal es mit seinen schlanken, aber prall gefüllten 200 Seiten um einiges einfacher zu erschließen ist als die monumentalen Bücher über Bach wie das von John Eliot Gardiner. Und dann kann es losgehen, jederzeit: ein neues Jahr voller Wunder.