Die Bienen und das Unsichtbare
I decided not to be silent when the battery dies.
Diese Selbstauskunft des in Malmö lebenden Mustafa Ahmed Jama stellt Clemens J. Setz seinem neuen Buch Die Bienen und das Unsichtbare voran, verbunden mit einem Gedicht in einer unverständlichen Sprache, bei der es sich auch um Klingonisch handeln könnte. Tatsächlich aber ist dies die Plansprache Volapük, und die Lesenden erwarten auf den folgenden 400 Seiten zahlreiche Textproben und Gedichte in sehr vielen, auf den ersten Blick sehr fremd erscheinenden Sprachen. In einer recht turbulenten Mischung aus Sachbuch, Reiseführer, literarischem Essay, Tagebuch und (vielleicht, sicher, wer weiß das so genau?) Fiktion führt Setz auf den weitgehend unbekannten Kontinent der Kunst- und Plansprachen. Zur bekanntesten unter ihnen, Esperanto, kommt Setz erst am Schluss des Buches. Vorher, das sei auch als Warnung zu verstehen, durchmisst Setz die ganze Weite, die größten Höhen und die tiefsten Abgründe menschlicher Erfindungskunst.
Vom Tänzeln.
Die Reise beginnt mit einem Ausschnitt aus Franz Kafkas Erzählung Eine Kreuzung. Ein merkwürdiges Tier beginnt zu "tänzeln", wenn es das Gefühl bekommt, verstanden worden zu sein. Von diesem Tänzeln, so Setz, handele sein Buch: es sei unsere "eigentliche Natur".
Das Chaos beginnt immer da, wo dieses Tänzeln des Verstandenwerdens nicht mehr existiert.
Als Charles Bliss (Karl Basiel Blitz) die Plansprache Blissymbolics entwickelte, geschah dies als Reaktion auf die Manipulierbarkeit von Sprache, wie der Jude Blitz dies im Dritten Reich erlebt hatte. Er suchte "etwas Neues, in dem sich Sinn sozusagen direkt übermitteln ließ", ohne Mehrdeutigkeiten und Interpretationsspielräume. Eine Sprache für die "reine Bedeutung". Seine Blissymbolics bestehen aus eindeutigen Symbolen, die keine Metaphern, keine Verzerrungen des Sinns zulassen.
Fast wäre diese – in umfangreichen Werken dokumentierte – Sprache von der Welt vergessen worden. Dann (in den 1970ern) entdeckte eine Lehrerin für Kinder mit Zerebralparese die Symbolsprache: Kinder, die sich kaum bewegegen können, die zu der Zeit abfällig als "vegetables" bezeichnet wurden, lernten mit ihr zu kommunizieren – eine Frau namens Karen Harrington schrieb auf Blissymbolics Gedichte und eine Autobiographie.
Die Geschichte, die Setz aufs Spannendste schildert, endet jedoch nicht mit diesem Erfolg für den Schöpfer und seine Sprache. Als Bliss entdeckt, dass die Lehrer*innen die Sprache weiterentwickeln, versucht er, diese "Manipulation" seiner Schöpfung zu untersagen. Ein jahrelanger Rechtsstreit sorgt dafür, dass die Kinder in die Sprachlosigkeit zurückfallen. Auf eine geniale Leistung folgt die Vergessenheit, die unverhoffte Wirkung streit gegen den menschlichen Stolz.
Setz ist zum Glück nicht an Urteilen, sondern an den faszinierenden Geschichten gelegen, die diese und andere Sprachen in Bewegung setzen. So kommt er zum oben erwähnten Mustafa Ahmed Jama, der, ebenfalls an Zerebralparese erkrankt, mit Blissymbolics über eine Sprache verfügt, in der er auch Gedichte schreiben kann. Hier lässt sich erleben, was Setz eigentlich interessiert: das Tänzeln, trotz aller Wahrscheinlichkeit, dank der schier unbegrenzten Möglichkeiten des menschlichen Geistes. Setz findet "poetry in its purest form".
Die große Befreiung
Weitere Sprachen, in der Folge ihres Auftretens (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): die Plansprache aUI (John Weilgart). Die Pictish Language von H. C. Artmann. Volapük. Ithkuil. Láadan: aus einem Science-Fiction-Projekt heraus entstanden, um besser auszudrücken, was Frauen empfinden? Mit vielen Wörtern von, so Setz, "perfekt in sich ruhender Gestalt". Die Kunstsprache Prashad des Hobbylinguisten James Keilty. Die in einem Kinderzimmer geborene Phantasiesprache Talossa, die eine weltweite Community um sich vereinte – ein Kindheitstraum, der sich auf spektakuläre Weise irgendwann gegen seinen Erschaffer wendete. Grammelt (Dario Fo). Umzaka und andere Nonsens-Sprachen. Dothraki und Valyrisch aus Game of Thrones. Klingonisch natürlich (das man – ebenso wie Esperanto) mittels der Sprach-App Duolingo erlernen kann. Die von J. R. R. Tolkien erfundene Elbensprache Quenya, die aus Ehrfurcht gegenüber ihrem Schöpfer zum Stillstand verurteilt ist. Genug.
Clemens J. Setz ist in seinem weitschweifenden Essay über die sprachliche Erfindungskraft des Menschen kein Umweg zu weit, keine Abgrund zu tief, keine Kuriosität zu fremd. Das verbindet diese bewusst abwegige Reflexion über Sprache auf merkwürdige Weise mit den surrealen Expeditionen von David Lynch: das scheinbar Normale verliert die Selbstverständlichkeit, wird wundersam, fremd. Was wir als eins wahrnehmen, teilt sich: Die uns meist so selbstverständlich zur Verfügung stehende Sprache löst sich von der Wirklichkeit, gewinnt ein unheimliches, beflügelndes Eigenleben. So ändert Setz den Blick auf Buchstaben, Worte, Bedeutungen – und letztlich die Welt, wie sie eingerichtet scheint.
Die reine Bedeutung, die reine Poesie, die pure Erfindung, die absolute Freiheit: das zeigt sich hier, wo sich Sprache von der Funktion der Verständigung löst und zum Spiel wird, zum Tänzeln. Von der "großen Befreiung", der weltweit erfolgreichsten Plansprache Esperanto war da noch gar keine Rede. Esperanto lerne man, so Setz,
am besten in einer Periode des Lebens, in der ein wenig Frieden und Ruhe eingekehrt ist und man den herzzereißenden Humor der Dinge, den man schon vergessen hatte, allmählich wieder wahrzunehmen beginnt.
Zur Vorbereitung – und als Appetizer – empfiehlt sich dieses Buch.
Als ich mein Plansprachenprojekt vor gut sechs Jahren begann, ahnte ich ... nicht, dass es derartige Reichtümer gab, dass die Welt tatsächlich noch weitgehend unentdeckt ist.