Der Trost runder Dinge
Dann bereitete er in Gedanken eine Liste von Dingen vor, die die Angst ein klein wenig, meist nur im Promillebereich, lindern konnten: extrem laut gespielte Technomusik, ein alter Mann, der auf einer Zither oder einem Hackbrett herumgreift, die hasenartige Schnauze eines Känguruhs, Massenschlägereien in Filmen mit Bud Spencer und Terence Hill, Boxkämpfe im Fernsehen, der Anblick von Auberginen oder Tomaten, überhaupt runde Sachen ...
Der Schriftsteller, der nach einem vergeblich verwarteten Tag auf dem Flughafen nicht auf dem Kulturforum in Kanada eintrifft – sondern in der heimischen Wohnung, die sich binnen Stunden in ein alptraumhaftes Lazarett verwandelt hat. Der Besucher, der sich, einen Elektroschocker unterm Mantel, unter fadenscheinigem Vorwand Zutritt zum Haus einer Familie verschafft. Der von Angst erfüllte Familienvater, der sich danach sehnt, dass seine Söhne dieselbe Angst empfinden wie er. Eine blinde Frau, deren Wohnung über und über mit Schimpfworten beschmiert ist – und der junge Mann, der während der beginnenden Affäre darüber nachdenkt, ob er ihr von den Schmierereien erzählen oder an diesen weiter schreiben soll. Die Schulkrankenschwester, die einen ihrer Schüler entführt. Der Vater mit dem irrwitzigen Glauben, er sei wieder jung –
In seinen Kurzgeschichten beschreibt Clemens J. Setz Menschen, in deren Haut man in aller Regel nicht stecken möchte, Situationen, die niemand freiwillig durchlebt. Das Paradox-Absurde Franz Kafkas trifft auf das Surreal-Alptraumhafte David Lynchs – die Geschichte von dessen Erstling Eraserhead würde sich nahtlos in die 20 Kurzgeschichten einreihen, die Der Trost runder Dinge enthält.
Setz kostet die Freiheit gnadenlos aus, die die knappe, konzentrierte Form der Kurzgeschichte ihm bietet. Meist aus Sicht eines Protagonisten entfaltet er auf engem Raum ein beklemmendes Szenario ums nächste. Wobei die Beklemmung vor allem daher rührt, dass jede Geschichte eine ihr immanente Logik entwickelt, die nicht begründet, nicht erklärt wird. Der Kern einer jeden Geschichte bleibt oft im Dunkeln – eine Auflösung ist Setz oder einer seiner zahlreichen Erzähler dem Leser nicht schuldig.
Wie selbstverständlich erzählt hier jeder seine Geschichte, hat jeder seine Wahrheit.
Man “kennt” ja den ein oder anderen merkwürdigen Nachbarn, die schiefen Blicke eines Passanten, den schrulligen Lehrer. In Zeiten von Social Media sind schnell Gerüchte im Umlauf und Meinungen gehen viral. Die Arbeit, sich in die Lage des Anderen zu versetzen, noch dazu in die eines “Täters” oder von jemandem, der in irgendeiner Weise “schuldig” wird, macht sich kaum noch einer.
Doch Setz ist nicht nur irre gut darin, den Verschrobenheiten seiner vermeintlich ebenso irren “Helden” nachzugehen – er folgt ihnen in die tiefsten Windungen ihrer Hirne und blickt auf die Welt mit der größtmöglichen subjektiven Verzerrrung. Nicht auf die Menschen blickt er, sondern durch deren Brille auf eine gespenstisch unheimlich Welt, die keine verlässliche Ordnung, kein Zuhause bietet.
In der Mitte des Bandes findet sich mit Die Katze wohnt im Lalande’schen Himmel etwas wie eine Schlüsselerzählung. Ein – fiktiver – Autor rekonstruiert hier die Geschichte des Psychiatriepatienten Bernhard Henri Conradi. Die Entdeckung, dass der Sternenhimmel ganz andere Sternbilder bereithält als die jedermann vertrauten, stellt die Welt des jungen Conradi auf den Kopf. Unbehaust, zerrüttet und voller Angst fristet Conradi fortan sein Leben zwischen Krieg und Psychiatrie, flüchtet in Gebet und Malerei. Nachdem der Autor die Geschichte dieses traurigen Patienten über Jahre verfolgt hat – längst selbst ein Opfer der irrlichternden Gedanken des Objekts seiner Obsession – blickt er irgendwann in den Nachthimmel – und sieht ein fremdes, bedrohliches Bild:
Es zeigt ein menschliches Gesicht, das offenbar schreit, aber dabei den Mund nicht besonders aufbekommt. Es wirkt eher wie jemand, der mitten in der Hölle unvermittelt zu singen beginnt.
In der Anverwandlung dieser fremden Schicksale, so legt es die Geschichte nah, im mimetischen Durchleben erkennen wir jenseits der geglaubten objektiven die jeweils subjektive, fremde Wirklichkeit. In den Schuhen des anderen gehend, durch seine Augen blickend, lässt sich etwas erfahren von der Trostbedürftigkeit und Versehrtheit des Menschen.
Denn die Wirklichkeit ist, frei nach David Lynch, nicht, was sie scheint.
So sind die Menschen in diesen komisch traurigen Geschichten des Clemens J. Setz: unfertig und hilfebedürftig, begierig nach Trost und voller Sehnsucht nach einer Hand, die sie durch den Nebel des Wahrgenommenen zu berühren vermag. Es handelt sich bei dieser Geschichtensammlung, aller Irrationalität zum Trotz, um eine Schule des Mitgefühls.
Clemens J. Setz: Der Trost runder Dinge. Erzählungen. Suhrkamp 2019