Am Anfang ist der Tod
Wieviele verschiedene Realitäts- und Bewusstseinsebenen passen eigentlich in einen, ja was: Kriminalroman? Und in wieviele literarische Schubladen lässt sich ein 400seitiges Buch pressen, ohne dass man es in einzelne Teile zerreißen muss? Der spanische Autor Jesús Cañadas hat mit Am Anfang ist der Tod ein Monstrum geschaffen, das scheinbar Unvereinbares miteinander verquickt: vom einfachen Polizisten bis hin zur Gottesfrage.
Am Anfang ist der Tod, das erste in deutscher Sprache erschienene Buch des Autors, ist zunächst einmal ein Berlin-Roman. Große Teile der Handlung spielen in Berlin-Neukölln und in Mitte; Cañadas verortet dabei das Geschehen so konkret, dass man die Wege mit seinen Protagonist*innen ablaufen könnte: zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße, zwischen Niemetzstraße und Bahnhof Neukölln begegnen wir Bettler*innen und Flüchtlingen, bewegen uns mit den beiden Ich-Erzähler*innen Lucas Kocay (Polizist) und Rebecca Lilienthal (Schülerin) zwischen Döner-Läden und Nachtklubs, atmen den Gestank von Hundehaufen und Raucherkneipen. In seinen schwächeren Stellen haftet dem Roman dabei etwas Reiseführerartiges an; nicht immer konnte Cañadas scheinbar dem Drang widerstehen, seinen Leser*innen Berlin zu erklären. Verziehen: dafür ist der Rest dieses Berlin-Trips dermaßen atemberaubend, schillernd und finster, dass man die manchmal etwas fett aufgetragene Ortskenntnis einfach in Kauf nimmt.
Schon das erste Kapitel, eigentlich eher eine Art Ouvertüre, schlägt einen in Bann: Kocaj, ein junger Polizist am Anfang seiner Karriere, folgt einer jungen Frau, nachdem ihn seine Geliebte auf die Straße gesetzt hat. Er folgt ihr in der U-Bahn (U8!) quer durch die halbe Stadt, er steigt mit ihr am Herrmannplatz in den Bus (M41!), er folgt ihr in Neukölln von Straßenecke zu Straßenecke. Er genießt spürbar seine Macht – und will doch eigentlich gar nichts Schlechtes… Kommt bekannt vor? Auf den folgenden Seiten trifft er im Keller eines Hinterhauses auf ein Dutzend Kollegen, die einen Pädophilen zur Verantwortung ziehen wollen. Kocaj wird trotz anfänglicher Skrupel am Ende der sein, der den Mann fast totschlägt.
Nun nimmt ein geradezu klassischer Roman Noir an Fahrt auf, ein Polizeiroman der finstersten Seite: Kocaj wird an die Seite des älteren, berüchtigten Kommissars Otto Ritter gestellt (der ungefähr so hart und abgebrannt ist, wie sein Name klingt). Sie sollen das Verschwinden einer jungen Schülerin aufklären, die in ihrem Zimmer im katholischen Internat nicht mehr hinterlassen hat als eine Pfütze aus Blut und einen herausgezogenen Zahn. Die anfänglich realistisch geschilderte Ermittlung führt buchstäblich in die Berliner Unterwelt: in eine Flüchtlingsunterkunft an der Karl-Marx-Straße, in eine merkwürdige Bücherei namens „Das Feuer“ und in einen Techno-Klub namens „Das Loch“. Immer zwielichtiger und surrealer erscheinen die Ereignisse, während sich Kocaj mit allem Ehrgeiz in seinen ersten richtigen Fall wirft – und dabei vor allem zeigt, wie wenig Männer sich unter Kontrolle haben. Je nach Lesart opfert er sich für die verschwundene und allem Anschein nach tote Rebecca auf – oder er verliert sich auf einem wahnwitzigen Ego-Trip.
Am Anfang ist der Tod ist auch ein Vexierspiel aus popkulturellen und literarischen Bezügen zu Fantasy- und Horrormotiven – von Harry Potter bis Twin Peaks etwa. Tatsächlich taucht an entscheidenden Stellen des Romans eine Halskette mit einem zerbrochenen Herzen auf: das tote Mädchen trug die eine Hälfte, die andere Hälfte hat ein mit ihr befreundeter Flüchtling, der natürlich dringend tatverdächtig ist. Das ist nicht nur zufällig ein direktes Zitat aus David Lynchs Twin Peaks: hier wie dort handelt es sich um eine falsche Fährte, weil die eigentliche Ursache des Geschehens, das Böse, auf einer ganz anderen Realitätsebene zu finden ist. Hier wie dort ist die strukturelle Gewalt von Männern das zentrale Thema, und hier wird dort führt diese Gewalt aber an ein anderen, tiefer liegenden Ort …
Der Polizist Kocaj wird diesem Weg in die Tiefe nur bis zu einem bestimmten Punkt folgen können. Dort übernimmt eine andere Ich-Erzählerin: Rebecca Lilienthal, die gefolterte, vergewaltigte und ermordete Schülerin aus dem katholischen Internat beginnt einen wahnwitzigen, maßlosen Rachefeldzug. Der Tod ist erst der Anfang: das ist auch eine Warnung an all die von sich berauschten Männer dieser Welt. Jesús Cañadas‘ Roman ist neben allem anderen nicht zuletzt so etwas wie ein schonungsloser feministischer Schlachtruf.