Serienmörder

1 x Korea, 1 x Weimarer Republik

Daher gibt es in der Leere keine Form,
keine Empfindung, keine Wahrnehmung,
kein Willen und kein Bewusstsein.
Keine Augen, keine Ohren, keine Nase,
keine Zunge, keinen Körper und keinen Geist.
Keine Formen und keine Töne,
keinen Geruch und keinen Geschmack,
nichts Tastbares und nichts Denkbares.
Keinen Bereich der Sinne
und auch keinen Bereich des Bewusstseins.
Keine Unwissenheit
und auch kein Ende der Unwissenheit ...

Aufzeichnungen vom Rand der Existenz

Young-Ha Kim: Aufzeichnungen eines Serienmörders. cass Verlag 2020

Wie oft habe ich das Herz-Sutra, das Sutra von der Vervollkommung der Weisheit des Herzens, auf Zen-Sesshins rezitiert, habe versucht, es zu verstehen, und schließlich versucht zu akzeptieren, dass es hier um eine Weisheit jenseits des Verstehens geht.

In dem Roman Aufzeichnungen eines Serienmörders des koreanischen Autors Young-ha Kim bildet dieser zentrale Text des Buddhismus den Rahmen; der Protagonist, Byongu Kim, Tierarzt und "pensionierter Serienmörder", liest ganz zu Anfang in ihm und findet bis zum Ende Halt in diesen alten Zeilen:

Von dem, was die Leute sagen, verstehe ich so gut wie nichts. Die Stelle aus dem "Herz-Sutra", die ich immer nur heruntergeleiert habe, geht mir jetzt nahe. Auf meiner Schlafmatte sage ich sie auf.

Und tatsächlich: dieses schmale Büchlein, halb Krimi mit Anleihen bei Quentin Tarantino oder David Lynch, halb erschütternde Meditation über die menschliche Existenz in all ihrer Zerbrechlichkeit und Abhängigkeit, macht erfahrbar, was es mit der Leere und der Form, mit der Vergänglichkeit und der Anhaftung (um mal so klassische buddhistische Begriffe zu gebrauchen), auf sich hat.

Denn Byongu Kim, beim Einsetzen seiner Notizen 70 Jahre alt, ist dement. So entgleiten ihm nicht nur die Erinnerungen, sondern zunehmend auch das Verständnis für die Gegenwart. 25 Jahre nach seinem letzten Mord lebt er ein ruhiges, beschauliches Leben zusammen mit seiner "Tochter" Unhi. Oh falsch: Sie gilt zwar offiziell als seine Tochter, ist aber eigentlich ein Waisenkind, dessen Eltern von Kim ermordet worden. Oder war das eigentlich ganz anders?

In den Notizen Byongu Kims taucht bald ein Mann auf: ein möglicher Serienmörder, der in der Gegend sein Unwesen treibt. Hat er es auf Unhi abgesehen? Will er sie ermorden? Oder will er dem einstigen Serienmörder Kim auf die Spur kommen? In jedem Fall geht von ihm eine Gefahr aus, die den Demenzkranken zum Handeln zwingt. Ein letztes Mal muss er also an die Zukunft zu denken. Er muss seine Tochter retten ... Oder ist alles doch ganz anders?

Mit seinen kurzen Notizen schreitet die Handlung voran; im Schreiben und Ordnen seiner flüchtigen Gedanken scheint der alte Mann vor der zunehmenden Leere zu flüchten. Das entbehrt nicht der Komik, vor allem aber ist es bis zum Schluss geradezu unerträglich spannend – denn zunehmend realisiert man als Leser, dass Byongu Kim ein gänzlich unzuverlässiger Erzähler ist. Denn vielleicht ist alles eben doch: ganz anders?

Ein furioser Krimi, der die Leere erfahrbar macht, die hinter unser aller Identität aufscheint, die Haltlosigkeit und die Verzweiflung; eine schonungslose Innenschau in die condition humaine; ein Krimi, der einmal mehr aufzeigt, wie sehr die erlebte Wirklichkeit ein Konstrukt ist, das sich unter der Hand auflösen und verflüssigen kann. Am Ende bleibt eben nicht viel mehr als die Weisheit des alten Sutras ...

Zeitdokument und Gesellschaftsstudie

Dirk Kurbjuweit: Haarmann. Ein Kriminalroman. Penguin 2020

Während die Aufzeichnungen eines Serienmörders voller Spannung und undenkbaren Wandlungen bis zur letzten Seite für Schnappatmung sorgen, ist das mit dem neuen Roman von Dirk Kurbjuweit so eine Sache. In Haarmann widmet er sich dem schon ziemlich umfassend ausgeschlachteten Fall um den Serienmörder, der in Hannover zur Zeit der Weimarer Republik sein Unwesen trieb und die eh arg gebeutelte Gesellschaft in Atem hielt. Die Geschichte ist weitgehend bekannt, der Täter steht quasi schon mit der Titelseite fest: mit Spannung vermag Kurbjuweit nicht zu überzeugen.

Sein Programm jedoch ist ein anderes. Nur kurze Passagen im Roman sind der Täterperspektive bzw. dem Erleben seiner Opfer vorbehalten. Vor allem interessiert den Autor die Perspektive der Ermittler. So folgt er dem Kommissar Lahnstein, der eigens für den Fall bei der Hannoveraner Polizei eingesetzt worden ist – und irgendwann die richtige Spur findet. Und natürlich: irgendwie ist klar, dass es ihm Ende allen Widrigkeiten zum Trotz gelingen wird, Haarmann dingfest zu machen und seiner Strafe zu überführen.

Kurbjuweit taucht in Stil und Thematik tief in das Kolorit der ausgehenden 1920er Jahre ein. Hitler sitzt im Zuchthaus, doch die Gefahren, die der jungen Republik drohen, sind allgegenwärtig. Der Weltkrieg liegt gerade lange genug zurück, um in allen Figuren weiterzuleben und zu arbeiten. Stilistisch stark an die Neue Sachlichkeit angelehnt, folgt Kurbjuweit seinem Ermittler, um wie in einem Brennglas an diesem Fall herauszuarbeiten, was auch heute von Relevanz ist. So spielt der gesellschaftliche Umgang mit Homosexualität eine herausgehobene Rolle. Vor allem aber der Ruf nach einem starken Staat, die Herausforderung, Sicherheit herzustellen, und die Frage, wie weit man dafür die Grenzen der Demokratie ausbeulen darf – da legen sich heutige Fragestellungen auf spannende Weise über den damaligen Fall.

Der Mörder ist hier nur der Anlass für eine sehr genaue Analyse von Kräften, die in einer Gesellschaft toben. Als Krimi ist das teilweise etwas zäh – als Zeitdokument und Gesellschaftsstudie aber durchaus spannend und erhellend.