Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Im Grunde ist das, was Daniela Krien in ihrem ersten Roman erzählt (und wie sie es tut), Tschechow in Reinkultur. Da ist eine mit wenigen Strichen gezeichnete, markante Landschaft, in der eine kleine Gruppe von – wiederum ziemlich markanten – Menschen nicht aufeinander trifft sondern eher: aufeinander hockt. Und das schon lange. Da hat ein jeder seine Geschichte und seine Last, ist jede Figur gezeichnet (vom Leben und, liebevoller, von der Autorin).

Und da ist das Thema: wie das Vergangene fortdauern möchte und doch nichts kann gegen die Zeit, die sich beschleunigt und Veränderung mit sich bringt, Ungewissheit, Fragen, Chancen und Ängste ...

"Es ist Sommer, heißer, herrlicher Sommer,"

Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen. Mit einem Vorwort der Autorin. Diogenes 2022

beginnt der Roman. Nicht nur irgendein Sommer: nein, es ist der Sommer 1990. Mit der Währungsunion ist die D-Mark auf dem Gebiet der DDR angekommen, das Land trägt noch den alten Namen, doch eigentlich ist schon kaum noch etwas, wie es war. Das Alte hat schon kein Macht mehr, das Neue ist noch nicht ganz da. Es herrscht Stillstand im Land, bevor der Aufbruch alles überrollt: eine merkwürdige, flirrende Form der Freiheit, in der alles möglich scheint und unwirklich zugleich. Es ist der Sommer, in dem die 17jährige Maria nicht mehr zur Schule geht, zu ihrem Freund auf den Hof zieht, unter dem Dach mit ihm schläft – und gleichzeitig einem weit älteren Mann, nunja, "verfällt".

Während Maria wie selbstverständlich ihren Platz in der Familie ihres Freundes auf dem Brendel-Hof einnimmt, so wie es jede Frau seit Jahrzehnten hier getan hat, lebt der als Sonderling und Trinker verschrieene Henner allein auf dem Nachbarhof. In staubigen Zimmern, zwischen Büchern und Weinflaschen, begehrt er das junge Mädchen, das, noch minderjährig, kaum weiß, wie ihm geschieht. Hilflos zunächst – und für heutige Verhältnisse undenkbar arglos – lässt sie die Lust des Mannes über sich ergehen wie ein Unwetter, um sich ihr irgendwann sehr selbstbewusst hinzugeben und der eigenen Lust zu begegnen. Maria entdeckt in diesem Sommer die Freiheit und ihr eigenes Leben, das – natürlich – jenseits der zeitlichen Grenzen des Romans auf sie wartet.

Der Herbst hat kaum begonnen, da gelangt der Roman und seine Liebesgeschichte auch schon an ihr Ende:

"Den Abend der Wiedervereinigung habe ich (Maria) unter der Wirkung der Beruhigungsmittel verschlafen."

Irgendwann werden wir uns alles erzählen, dieses beachtliche Erstlingswerk der in Leipzig lebenden Autorin, ist ein dunkler und leidenschaftlicher Roman, der nicht nach Moral fragt. Was hier geschieht ist nur möglich, weil jeder irgendwie mit sich beschäftigt, die Zeit aus den Fugen und dazwischen ganz viel Raum zu entdecken ist. Mit großer Hingabe und Ausdauer lesen die Protagonisten Dostojewski, und natürlich ist auch dies, das immer wieder zitierte Buch Die Brüder Karamasow, eine bewusst gelegte Fährte.

Wem ihr zu folgen, anders als diesem unglücklich (?) verliebten Paar in dem Buch, die Zeit fehlt, der findet Trost in den rauen, sinnlichen Beschreibungen von Daniela Krien. Als könnte man die Zeit, das Land von damals riechen und in sich aufsaugen, mit allen Sinnen. Derzeit wird der Roman von Emily Atef verfilmt - ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn sehen möchte. Zu stark sind die Bilder, die das Buch allein hervorruft.