Muldental

Das Leben im Ernstfall

Liebe ist kein Gefühl.
Liebe ist keine Romantik.
Liebe ist eine Tat.
Man muss die Liebe vom Ernstfall aus betrachten.

Manchmal braucht auch ein Buch so etwas wie eine zweite Chance. Als Die Liebe im Ernstfall letztes Jahr erschien und gefühlt omnipräsent war, ließ ich Buch und Autorin erst einmal links liegen. Titel und Covermotiv lieferten mir irgendwie auch genug Gründe, das Buch guten Gewissens zu ignorieren. Aber wie heißt es so schön: Don’t judge a book by his cover.

Irgendwann stellte ich fest, dass die Autorin ungefähr zur gleichen Zeit wie ich in Leipzig Kulturwissenschaften studiert hatte. Ich wollte es genauer wissen. Zum Glück: die leisen intensiven Texte von Daniela Krien erwiesen sich als bewegende Lektüre, als dichtes Portrait der ostdeutschen “Provinz” und den hier lebenden Menschen, als Sammlung beunruhigender, irritierender Geschichten, die haften bleiben.

Die Liebe in Leipzig ...

Die geographische Verbindung zwischen Autorin, Buch und Leser(in) hat dabei mehr als nur anekdotische Bedeutung. Denn die präzise geographische Verortung ihrer Geschichten ist einer der wichtigen Züge im Schreiben der Wahl-Leipzigerin. Das Vergnügen an Die Liebe im Ernstfall steigt daher durchaus mit der eigenen Ortskenntnis; man glaubt, teilweise die Wege der fünf Protagonistinnen in diesem Episodenroman mitgehen zu können, so konkret sind die Geschichten in der Stadt angesiedelt.

Fünf Frauen im Leipzig der Nachwendezeit stehen im Mittelpunkt: ihre Beziehungen, ihr Liebesleben, die Versuche, sich zu finden, das Leben in die Hand zu nehmen, der stete Kampf zwischen Selbstbehauptung und Hingabe. Der anschauliche, in der Wirklichkeit der Stadt, in einzelnen Straßenzügen wurzelnde Realismus und die meisterhafte Konstruktion des Romans machen es möglich, dass über diese sehr intimen und sinnlichen Geschichten gleichsam ein glaubwürdiges Zeitportrait entsteht – bis hin zu beeindruckenden Einblicken in die politische Verfasstheit der aktuellen ostdeutschen Gesellschaft.

Denn die Orte, die politischen Ereignisse, die Krisen bilden den Rahmen, in dem die scharf gezeichneten Charaktere sich bewegen, sich entscheiden, sich verhalten, in dem ihr Leben sich vollzieht und unter dem sie nicht selten leiden.

... und das Leben im Muldental

Das verbindet den Roman mit den 2014 erschienen Erzählungen in Muldental, das jetzt, um ein Vorwort und eine neue Geschichte ergänzt, im Diogenes Verlag neu aufgelegt wurde. In beiden Büchern, in den Kurzgeschichten ebenso wie im Roman, ist Daniela Krien stets extrem nah bei ihren Figuren; Orte und Geschehnisse finden sich als Echo in den Geschichten wieder, als Eckdaten und Grenzsteine, an denen sich die Figuren in aller Regel abarbeiten.

Daniela Krien beschreibt Menschen, die suchen, handeln, sich entscheiden, aufbrechen, kämpfen – und nicht selten verlieren.

Das macht die Lektüre von Muldental zu einer emotionalen Achterbahnfahrt. Skizzen von “Lebensdramen” bildeten den Ausgangspunkt für die Kurzgeschichten, so die Autorin:

“Überschuldeter Handwerker begeht Selbstmord.” Oder: “Ehepartner entpuppt sich als Stasi-Spitzel.” Oder: “Junge Frau entscheidet sich für Spätabtreibung.”

Aus diesen “Schlagzeilen” entstanden Geschichten, die sich in einfacher, unaufgeregter und um größte Präzision bemühter Sprache mitten ins Leben stellen; dorthin, wo oftmals unbewusst über Tod und Leben, Scheitern oder Erfolg entschieden wird. Krien erzählt grundsätzlich im Präsens, ein weiteres Charakteristikum dieser bemerkenswerten Prosa: die Autorin wähnt sich in keinem Moment klüger als ihre Figuren. Die Geschichte ihrer Figuren allein interessiert sie – das erinnert in seinen leisen Tönen und dem genauen Gespür für die Situation mitunter an Raymond Carver.

Mit dem Titel Muldental ist auch hier ein geographischer Rahmen umrissen, der die Geschichten und ihre Figuren prägt: Wendezeit, Rechtsradikalismus, die Flut-Katastrophe geben den Rhythmus für das Leben hier in der ostdeutschen, mittelsächsischen Provinz. Sie sind das ferne Echo, auf das die Menschen in ihren Leben reagieren.

Anders als z.B. bei Juli Zeh sind Krien ihre Figuren nie Mittel zum Zweck, nie darauf angelegt, als Teil einer Versuchsanordnung oder Beleg für eine Zeitdiagnostik gelesen zu werden. So wird das Personal ihrer Geschichten nie zu bloßen Bedeutungsträgern oder Zeitzeugen degradiert – die Geschichten entziehen sich jeder vorhersehbaren Logik und bedienen keine vereinfachende Lesart. Dass sich daraus dennoch so viel über die Gegenwart erfahren lässt, das ist das Geheimnis und die Wucht dieser spröden und doch so poetischen Texte.

Daniela Krien: Muldental. Erzählungen. Diogenes 2020
Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall. Roman. Diogenes 2019