Freiheitsschock
Nein, ein Schock war es eigentlich nicht. Dazu waren die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen zu vorhersehbar. Dazu gab es im Vorfeld zu viele Stimmen, die warnten, deuteten, stritten - mal über, mal mit, mal für, mal gegen die Ostdeutschen. Während Dirk Oschmann Ostdeutschland als "westdeutsche Erfindung" erzählte, meldeten sich differenzierende Beobachter wie der Soziologe Steffen Mau zu Wort, die jede Menge Hinweise lieferten, warum radikale und populistische Kräfte in Ostdeutschland ungebremst – und scheinbar nicht zu bremsen – auf dem Vormarsch sind. Nein, nach allem, was man wissen konnte und befürchten musste, hätten diese Landtagswahlen kein Schock sein müssen. Dennoch: Der Schock sitzt tief.
Eine andere Geschichte Ostdeutschlands
Erst kurz vor den Landtagswahlen legte der Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk unter dem Titel Freiheitsschock seine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute vor. Er möchte "wachrütteln", schreibt der in Ost-Berlin aufgewachsene Wissenschaftler und hält mit seiner Wut nicht hinterm Berg: Mit dem wachsenden Abstand zur DDR wachse die "Weichzeichnerei", und die immer differenziertere Betrachtung der DDR kippe in Relativierung. Da werde nicht nur der Unrechtsstaat DDR relativiert und im Zweifel sogar rehabilitiert – Antiamerikanismus und antiwestliche Positionen könnten wieder an Boden gewinnen, auf dem autoritäre Parteien wie AFD und BSW ihre Erfolge feiern.
Kowalczuk setzt dem ein flammendes Plädoyer für die Demokratie und die Freiheit entgegen – beide sieht er in akuter Gefahr. Die Auseinandersetzung in und um Ostdeutschland ist nur die kleine Version dessen, was auf der ganzen Welt und – besonders zugespitzt – in der Ukraine zu beobachten ist: eine Auseinandersetzung um die offene, freiheitliche Gesellschaft. Freiheit und Demokratie aber haben es in Ostdeutschland nicht sonderlich leicht, so der Autor. Seine Grundthese:
"Ein nicht unbeträchtlicher Teil der ostdeutschen Gesellschaft erlitt ab dem Herbst 1989 einen Freiheitsschock."
Was das heißt, und was das für die heutigen Probleme bedeutet, führt Kowalzuk in seinem sehr persönlichen aber sachkundigen Essay aus. Als Historiker hat er mehrfach und umfangreich zu den Ereignissen von 1989 gearbeitet. Hier skizziert er nur den Weg von SED-Diktatur zur deutschen Einheit. Entgegen dem ostdeutschen Selbstbild hätte nur eine kleine Minderheit politisch Engagierter die Revolution in Gang gebracht – die Mehrheit wäre dann fröhlich und so schnell wie möglich auf den Zug Richtung deutscher Einheit (Marktwirtschaft! D-Mark!) aufgesprungen.
"Selten war eine Gesellschaft so unpolitisch, so desinteressiert an ihren eigenen Rahmenbedingungen wie die ostdeutsche nach 1990."
Als dann die Enttäuschung einsetzte, der "Westen" sich nicht als das Goldene Land entpuppte, die Arbeitslosigkeit explodierte und sich Freiheit plötzlich als anstrengender erwies als die Diktatur, setzte das "Meckern auf den Staat" wieder ein: "Eine lebendige und breite Zivilgesellschaft hatte in Ostdeutschland nach 1989 jahrzehntelang keine Chance, weil deren Voraussetzungen, eigenverantwortliches Handeln anzustreben und die Dinge nicht laufen zu lassen, in Ostdeutschland gesellschaftliche Randerscheinungen blieben."
Kowalczuk formuliert nicht nur zugespitzt, er schreibt hartnäckig gegen zu harmonische, vereinfachende Bilder des Ostens an. Das mag man wiederum vereinfachend finden, weil die Realität vielleicht manchmal doch komplexer war. Doch im Kern hat Kowalczuk ja recht: Die DDR war kein Friedensstaat, sondern ein Staat im Krieg gegen die eigene Gesellschaft, die Diktatur des Proletariats eine Erziehungsdiktatur. Für Bewohner dieses Landes wiederum (und selbst für die, die flüchteten), das beobachtet Kowalczuk mit Uwe Johnson, war die DDR "mehr als ein Land, mehr als Heimat und biographische Gegend" – sie war eine Art Kumpel, zu dem man eine Beziehung pflegte.
"Was auch immer der Einzelne in der DDR als positiv wahrgenommen oder erlebt haben mag, es funktionierte nur im Rahmen eines extrem unfreiheitlichen und undemokratischen Systems."
Dass ein relativierender Umgang mit der Diktatur heute auf dem Vormarsch ist, begründet Kowalczuk mit den fehlenden demokratischen Erfahrungen in Ostdeutschland. Das Leben in der Diktatur sei für viele einfacher, Freiheit werde zunehmend als Zumutung erlebt. Demokratische Einstellungen konnten sich nur schwach entwickeln, demokratische Parteien sind kaum verwurzelt (siehe auch Steffen Mau), die Transformationserfahrungen seit den 1990er Jahren führen zunehmend zur Enttäuschung über die westdeutsche Demokratie. Fehler im Einheitsprozess gehören hier natürlich auch dazu. Die Folge: "Es gibt eine große Anzahl von Menschen, die mehr oder weniger durch die Demokratie irrlichtern."
Im Westen gegen den Westen
Die Ostdeutschen sind da angekommen, "wo man nicht hinwollte". Auf den Freiheits- und Transformationsschock antwortet eine wachsende Anzahl Ostdeutscher schon seit einigen Jahren zunehmend mit der Wahl antiwestlicher Positionen (NPD, DieLinke, AfD). "Die werden es schon richten." Von der Politik enttäuscht, die zu wenig für eine(n) tut, richtet sich die Hoffnung auf Parteien, die eine starke, autoritäre Führung versprechen, die dem Einzelnen unangenehme Fragen abnimmt und – das war in diesem Wahlkampf in den Wahlprogrammen von Sahra Wagenknecht und AfD mustergültig nachzulesen – eine Rückabwicklung der Transformation versprechen. Hin zu allem, was früher besser war.
Aus der Freiheit heraus gegen die Freiheit zu kämpfen: wie das die SED-Nachfolgepartei DieLinke, die AfD oder das Bündnis Sahra Wagenknecht schaffen, welchen Bärendienst "Putin-Nichtversteher" wie Gregor Gysi, Sahra Wagenknecht oder Michael Kretschmer dem russischen Diktator erweisen und warum der Krieg in der Ukraine ein Krieg gegen unsere Lebensweise ist, führt Kowalczuk anhand vielfacher Quellen und Originalbeiträge aller Beteiligten kenntnisreich aus.
"Dieses Buch ist sinnlos", schreibt Kowalczuk zu Beginn, weil die, die es lesen müssten, es sowieso nicht lesen. Vielleicht hätte dem Buch etwas weniger Wut im Bauch manchmal gut getan. Auf der anderen Seite aber braucht es gerade jetzt solche Stimmen, die ohne Kompromisse, mit Leidenschaft und persönlichem Einsatz für die Freiheit und die Demokratie eintreten. Denn die ist in Gefahr, nicht erst seit dem 01. September 2024.