2014. Ein Jahr in Büchern
Murakami, Herrndorf, Peters...
Am letzten Tag des alten Jahres habe ich, endlich, die letzten Bücher ordnungsgemäß in dem Regal untergebracht, das seit unserem Einzug vor vier Monaten auf die ihm gebührende Aufmerksamkeit wartete. Feststellen durfte ich:
- a) Im Laufe der Zeit sind die Bücher, die ich - gleichwohl in meinem Besitz - noch nicht gelesen habe, nicht weniger sondern eher mehr geworden;
- b) über die Jahre wird auch die Zahl der Bücher, die ich endlich noch einmal lesen muss, größer;
- c) allerdings nimmt die Zahl der Bücher, die ich zu "verschlingen" schaffe, in den letzten Jahren immer mehr ab (verschiedenste Gründe) -
- d) was mich - glücklicherweise? - in genau dem Maße weniger stört, in dem die Zahl der umgeblätterten Seiten abnimmt.
Ich entwickle also eine Art Immunität gegen meine mit dem Alter zunehmende Leseschwäche. Selten habe ich so wenig gelesen wie im zurückliegenden Jahr 2014 - warum aber sollte mich das stören? Noch dazu wenn ich mir anschaue, was ich gelesen habe...
Zuerst: der Donnerschlag
Ich lasse mal die farblosen Pilgerjahre des Herrn Murakami unter den Tisch fallen - es gibt tatsächlich Bücher, die ich direkt nach der Lektüre zum halben Preis einfach weiterverkaufe...
Davon abgesehen begann 2014 mit einem Donnerschlag von einem Buch, wegen mir auch mit markerschütterndem Löwengebrüll: Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur finde ich schlicht das Ergreifendste, Bewegendste und das Lebenumwälzendste, was gerade noch so zwischen zwei Buchdeckel geht.
Als Helen Burns stirbt, beschreibt Jane [Eyre] die Welt als einen Abgrund mit nur einem einzigen Halt: der Gegenwart.
Diese Chronik eines angekündigten Todes, dieser Buch gewordene Lebenswille im Angesicht der Endlichkeit, diese Relativierung all dessen, was wir für wichtig erachten, durch das Bewusstsein der eigenen Nichtexistenz - und das in einer Sprache, die Präzision, Sinnlichkeit, Leidenschaft in sich vereint, in einem Pageturner, der dummerweise auch noch spannend bis zum Schluss ist, zum Heulen schön und sowas von wahr - trifft zielgenau zwischen allen Lebenslügen und Erzählkonstrukten des eigenen Alltags hindurch auf den fragilen Kern unseres Hierseins.
Herrndorf vermag mit diesem, dem eigenen Sterben abgeluchsten Protokoll in meinen Augen mehr, als Literatur konventionellerweise vermag.
Immer die gleichen drei Dinge, die mir den Stecker ziehen: die Freundlichkeit der Welt, die Schönheit der Natur, kleine Kinder.
Kein Wunder, dass das später im Jahr erscheinende Roman-Fragment Bilder deiner großen Liebe da nicht mithalten kann - muss es auch gar nicht, so etwas wie Arbeit und Struktur reicht mir einmal in fünf Jahren ...
Was dann geschah
Wie gesagt: 2014 war - aus verschiedensten Gründen - ein für mich eher dünnes Bücherjahr. Entsprechend kurz ist die Aufzählung der Bücher, die bei mir in den vergangenen Monaten in der Tasche bzw. auf dem Nachttisch lagen.
Über Herr Yamashiro bevorzugt Kartoffeln von Christoph Peters habe ich schon anderswo geschrieben (nämlich hier). Der schmale Band, in dem mit leisem Humor von der Begegnung der japanischen Tradition und der deutschen Kultur erzählt wird, geht respektvoll und ohne auf Klischees hereinzufallen mit den beiden verschiedenen Welten um, so dass man einen leichten Geschmack von den jeweiligen Eigenarten bekommen kann.
Nicht ganz so gelungen dagegen der um einiges umfangreichere Roman Geschichte für einen Augenblick von Ruth Ozeki (ebenfalls hier). Ruth Ozeki versucht im Grunde etwas ganz Ähnliches wie Peters, fällt aber im Gegensatz zu ihm auf die eigene Ehrfurcht vor der anderen Kultur herein. Christoph Peters hingegen gelingt in der Figur des Ofenbaumeisters Yamashiro gerade aus einer gesunden Distanz heraus der Zugang zu einigen Geheimnissen der japanischen Seele.
Nach Michael Köhlmeiers Zwei Herren am Strand verlor ich mich im Anschluss einige Wochen lang in Lutz Seilers Kruso. Hiddensee ist eine Welt für sich, die einen auch so schnell nicht wieder loslässt. Dieser Roman, Abenteuer- und Liebesgeschichte, Chronik der letzten Tage eines untergegangenen Landes, Erzählung tragischer Schicksale, existenziell und surreal zugleich, dieser Roman zieht einen in seinen Bann, man weiß irgendwann nicht mehr so recht, wer hier wen verschlingt. In jedem Fall kann ich nach der Lektüre dieser faszinierenden 500 Seiten nicht wirklich sagen, worum es in diesem Buch dann eigentlich ging, also lasse ich lieber den Autor sprechen:
Allerdings: Kruso wird im Bücherregal schon mal unter unbedingt wieder lesen abgelegt, und zwar recht weit oben...
Zuletzt
Die besten Geschenke sind ja in der Regel die, die man sich selbst nicht gemacht hätte. Bisher bin ich mit dem Genre der Graphic Novel nicht so warmgeworden - insofern könnte Der spazierende Mann von Jiro Taniguchi ein wahrer Türöffner sein.
Der schmale Band des "Europäers unter den japanischen Comic-Zeichnern" lag unter dem Weihnachtsbaum und hat sich auf seine ganz leise, poetische Art schon einen zentralen Platz in meinem Leben erobert. Die sehr genaue Schilderung der japanischen Kultur stößt bei mir natürlich auf einiges Interesse; die ziellosen Spaziergänge durch die Vorstadt kommen mir irgendwie vertraut vor; allerdings erweisen sich diese unspektakulären Wanderungen des namenlosen Herrn bei Taniguchi in aller Regel als erstaunlich beglückend. So erinnert mich dieses warmherzige leise Stück Literatur an etwas, was mir im Alltag immer noch oft abhandenkommt: die Offenheit und Gelassenheit, einfach sein zu lassen, was mir über den Weg läuft.
Kein Donnerschlag, kein Löwengebrüll - eher ganz schlichte, verblüffend banale Ein- und Aussichten.