Von Lebenden und Toten
Neue Romane von Gabriel García Marquez und Veronika Peters
Wir sehen uns im August
Erst neulich wurde im neuen Roman von Haruki Murakami über das Verhältnis von Gabriel García Marquez zu den Lebenden und den Toten philosophiert – da flattert mir prompt ein Kurzroman aus dem Nachlass des vor zehn Jahren gestorbenen Nobelpreisträgers auf den Schreibtisch. Wir sehen uns im August ist dem Kampf gegen die zunehmende Demenz abgerungen, "Ergebnis einer letzten Anstrengung", so schreiben die Söhne des Autors im Vorwort, "auch gegen Wind und Wetter weiterhin schöpferisch tätig zu sein":
"Der Schreibprozess war ein Wettlauf zwischen dem Perfektionismus des Sprachkünstlers und seinen schwindenden geistigen Kräften."
So gesehen ist Wir sehen uns im August auch ein Zeugnis davon, wie ein Autor gegen den Tod ankämpft, auf seiner eigenen Sprach- und Vorstellungskraft beharrt – und doch nicht fertig wird. Gabriel García Marquez (Gabo genannt) wollte nicht, dass das Werk veröffentlicht wird.
Auf den knapp 150 Seiten lernen wir eine Frau kennen, die an jedem 16. August auf eine Insel in der Karibik fährt, um am Todestag ihrer Mutter vor deren Grab Blumen niederzulegen. Alles an diesem Besuch ist ritualisiert: das Datum, das Taxi, die Blumen, das Hotel, in dem sie anschließend übernachtet. Bis sie in einer solchen Nacht mit einem Fremden schläft – ein Ereignis, das ihr Leben auf den Kopf stellt:
"Nie wieder würde sie dieselbe sein."
Mehrere Jahre begleiten wir nun Ana Magdalena Bach – so ihr, wohl kaum zufällig gewählter Name – für jeweils einen Tag und eine Nacht auf die Insel. Jedes Jahr wird sie mit einem Fremden schlafen und bald sich, die Welt und auch ihren Ehemann mit anderen Augen sehen. Gabriel Garcá Marquez hat uns eine dichte, verführerisch musikalische Skizze über das Erwachen einer reifen Frau hinterlassen – auf die am Ende eine erschütternde Entdeckung wartet.
Nackt war ich am schönsten
Eine Tochter und ihre gestorbene Mutter spielen auch im neuen Roman von Veronika Peters die Hauptrolle. Antonia Bachmann (genannt Toni) ist zwar eigentlich bei ihrer Oma Emma im hessischen Lindbach aufgewachsen – dem Dorf, das sie nach deren Tod fluchtartig verlassen hat – doch nun ist die Mutter, bekannt als "Emma zwei", gestorben, die Toni nur als Alkoholikerin in Erinnerung hat. Die Tochter kehrt also ins Dorf ihrer Kindheit zurück, der Spar ist jetzt ein Edeka, die Wölfe sind wieder da, und während alle älter geworden sind, sind die Leben doch meist anders verlaufen als einst gedacht.
Soweit so konventionell; doch ist da noch der Blinde Passagier, dem dieses Buch auch seinen Titel verdankt – und mit ihm (bzw. ihr) in der eigentlichen Hauptrolle entfacht Peters ein so fulminantes Feuerwerk an Ideen, Dialogen und Situationen, die die Dorfkulisse aufmischen, dass Nackt war ich am schönsten für mich zu den schillerndsten, furchtlosesten und fröhlichsten Büchern zählt, die ich seit langem gelesen habe: Ein ganz unwahrscheinliches Meisterwerk, gerade weil es keines sein will.
Denn Toni stößt im Garten des alten Hauses auf die Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven, 1874 in Swinemünde geboren, 1927 in Paris unter nicht ganz geklärten Umständen gestorben. Weitgehend vergessen, hat die Dame nach eigener, nie ganz für bare Münze zu nehmender Aussage den Dadaismus mehr als nur mitbegründet – für Skandale hat in jedem Fall ihr furchtloser, selbstbewusster Umgang mit Weiblichkeit, Sexualität und Sprache gesorgt.
"'Sexuell aufgeladene Dichtung' haben die beschränkten Damen und Herren Profidefiniteure es gerne genannt. ... Ich war ja eine Frau, als solche sollte ich mich nach Ansicht der meisten meiner Zeitgenossen lieber bescheiden und im Hintergrund aufhalten, jajaja, aber für den Hintergrund war ich leider ganz untalentiert."
Daran hat sich auch nichts geändert: die Baroness mit ihrem Hang zu großen Worten und jedem noch so erdenklichen Wortspiel zieht es auf die große Bühne. Im Grunde hält jede Seite dieses Romans dank der durch nichts zu bremsenden Baroness eine neue Überraschung, eine neue Wendung und ein weiteres markiges Bonmot bereit. So braucht uns Veronika Peters gar nicht erklären, wieso Elsa von Freytag-Lorinhoven nach ihrem Tod weiterlebt und im hessischen Hinterland die Fäden zieht. Tot oder lebendig? Das ist hier nicht die Frage.
"Es ist, wie es ist, obwohl es nie so ist, wie es scheint," so kurz und knapp die Baroness. Und so fügt sich auch Toni im Laufe ihres Aufenthalts in so einiges, das sie nicht erwartet hat und nicht versteht. Auch ihre verstorbene Mutter wird sie – nun leider zu spät – noch einmal neu kennenlernen müssen.
Denn Emma zwei hat nach dem Tod der Großmutter eine Entziehungskur durchgemacht und anschließend ein neues Leben in Lindbach angefangen – als im Ort anerkannte und geschätzte Künstlerin. Eine "stille, leidlich, konventionell vor sich hinarbeitende saukluge Zauberin" nennt die Baroness sie irgendwann:
"Deine Mutter und ich, wir waren zwei entgegengesetzte Pole auf einer Landkarte, das jeweils andere Ende der Fahnenstange, das Stück zum Gegenstück, die Faust und die Kompottschale."
"Die spinnen, die Lindbacher", denkt sich Toni irgendwann, "wahrscheinlich befinde ich mich gerade inmitten einer dadaistischen Performance." Und ja, da ist was dran: Selten so viel (gelungenen!) Slapstick und Absurdes Theater in einem deutschen Roman gelesen wie in diesem. So wie Elsa von Freytag-Loringhoven mithilfe ihrer Autorin, wie sie sagt, ihrer Sterblichkeit widerspricht, so hebt Veronika Peters mit diesem anarchistisch-respektlosen Künstlerinnenroman die Gewichte der Wirklichkeit etwas an, um darunter nach den leider sehr surreal wirkenden Träumen der Moderne zu suchen und diese einfach mal wörtlich zu nehmen. Freiheit! Emanzipation! Gerechtigkeit! Selbstbestimmung!
"Wetten, dass ihr euch später auf die Suche macht, nach der, die ich bin? Dass ihr eure Computer aufklappen, meinen Namen eingeben und nicht glauben werdet, was ihr da lest? Richtig so: Glaubt es nicht! Tanzt lieber! Tanzt durch die Nacht und vertreibt eure Dämonen! Und morgen früh pflanzt ihr jeder einen Rosen- oder Bohnenstrauch und hört damit auf, mich und meine Schwestern in spiritu zu vergessen."
Wer schon einmal mit der Suche anfangen möchte: hier entlang. Aber vergesst nicht, dieses Buch zu kaufen und zu verschlingen.