Die Stadt mit der ungewissen Mauer

Murakami

Magischer Realismus

Dieses Stichwort fällt kurz vor dem Ende von Haruki Murakamis neuem Roman – und das natürlich alles andere als zufällig. Da erzählt die Freundin des Protagonisten über Gabriel García Márquez:

„In seinen Geschichten sind das Wirkliche und das Unwirkliche, die Lebenden und die Toten eins, alles vermischt sich … Als wären es alltägliche und selbstverständliche Begebenheiten.“

Haruki Murakami: Die Stadt mit der ungewissen Mauer. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont Buchverlag 2024

Währenddessen fühlt der Ich-Erzähler noch den Schmerz in seinem Ohrläppchen, seit ihn im Traum der Junge mit dem Yellow-Submarine-Shirt gebissen hat, der seit Tagen verschwunden ist. In Die Stadt mit der ungewissen Mauer ist so ziemlich alles ungewiss – und alles möglich. Ein Geist tritt auf, in Bibliotheken werden Träume statt Bücher gelesen, Uhren haben ihre Zeiger verloren, Menschen verschwinden spurlos, jemand fällt buchstäblich in ein Loch und wacht in einer anderen Welt wieder auf, in der Körper ohne Schatten leben: eben in dieser Stadt mit der, Sie wissen schon, ungewissen Mauer.

All das erzählt Murakami ohne Wimpernzucken: mit weit geöffneten Augen, bar jeglicher Dramatik und fern aller Verwunderung entfaltet sich diese Chronik nicht-alltäglicher Ereignisse. Die TAZ zieht eine Verbindung zu Der Junge und der Reiher, dem neuen Film von Hayao Miyazaki: Hier wird dort ist es irgendwann gar nicht mehr entscheidend, welche der zahlreichen, miteinander verbundenen Ebenen „die Realität“ ist und ob bzw. wie sich das Ganze erklären lässt. Ganz ehrlich: sowohl beim Film als auch bei diesem toll zu lesenden Roman habe ich es mit den Erklärungsversuchen irgendwann aufgegeben.

Dennoch: Auch wenn man, anders noch als in dem vor über zehn Jahren erschienenen 1Q84, in diesem Roman nie genau weiß, wann man sich auf dem Boden irgendwelcher Tatsachen befindet, verliert man weder die Orientierung noch die Lust. Im Gegenteil: so wie der Erzähler mit somnambuler Gelassenheit durch die merkwürdigen Ereignisse und noch merkwürdigeren Welten führt, so gern lässt man alle Vernunft hinter sich und folgt fasziniert dem Geschehen, das Murakami in der für ihn typischen unaufgeregten Erzählweise darbietet. So kunstvoll sind die Welten hier durch Spiegelungen und Analogien verbunden, dass man sich auf den meditativen Sound dieses Buches gern einlässt. Zu denken gibt Murakami seinen Leser*innen mit dieser Geschichte über die Liebe und ihren Verlust mehr als genug.

Ein Mädchen verschwindet spurlos aus deinem Leben.

Alles beginnt mit einer laut dem Autor am Anfang seiner Karriere geschriebenen Liebesgeschichte: ein Junge und ein Mädchen, er 17, sie 16. Das Mädchen ist es, das die Stadt erschafft: sie erzählt von diesem Ort, in dem, so sagt sie, ihr „wahres Ich“ lebe. Aus ihren Erzählungen heraus rekonstruiert der Junge ein Bild der Stadt, das so detailliert ist, dass schon hier die Grenzen von Realität und Imagination verschwimmen – und wie sehr erst, als der Junge sich irgendwann selbst dort wiederfindet.

“In dieser Stadt wimmelte es nur von erfundenen Geschichten, und sie steckte von Grund auf voller Widersprüche. Letztlich war sie nur ein erfundener Ort, den du und ich im Laufe eines Sommers geschaffen hatten.“

Ein erfundener Ort, der das ganze Leben des Erzählers verändern wird. Was darf Fiktion? Was kann sie? Das Mädchen nämlich ist von einem Tag auf den anderen verschwunden, die Zeit vergeht, und der namenlose Erzähler führt ein „nicht unbefriedigendes Leben als nützliches Mitglied der Gesellschaft“. Understatement á la Murakami für: Tut nicht weh, aber geht so. Zwischen seinem 20. und 45. Geburtstag passiert nicht viel mehr, als zwischen ein paar Buchseiten passt:

„Mir war, als hätte ich die letzten dreißig Jahre damit verbracht, die Leere provisorisch mit Dingen zu füllen, die mehr oder weniger zufällig meinen Weg kreuzten. Denn mit irgendetwas musste ich sie ja füllen.“

Einsamkeit, Sehnsucht, Melancholie und Tage voller wenig erfüllender Arbeit: bei Murakami ist diese Diagnose kein Anlass für Kritik und Anklage, sondern Grund für tiefe Empathie. So wie er unaufgeregt und mit Liebe für nur scheinbar banale Details seinem Ich-Erzähler durch die Lebensjahre folgt, die dieser voller unerfüllter Sehnsucht nach der Jugendliebe verbringt, ist Die Stadt mit der ungewissen Mauer eine Liebeserklärung an das unperfekte Leben, an die Zwischentöne, die Zweideutigkeiten und eine Existenz unterhalb des instagram-tauglichen Radars.

Der Erzähler jedenfalls kündigt irgendwann seinen Job und zieht in eine kleine Stadt in den Bergen, wo er eine ebenso kleine Bibliothek leiten wird – ein Ort, der von einem Geist aufgesucht wird und merkwürdige Verbindungen in die Vergangenheit / Imagination aufweist. Auch eine neue Liebe wartet dort (die Frau mit dem Faible für Gabriel García Márquez) – doch dann ist da ja noch der Junge mit dem Yellow-Submarine-Shirt….

„Die Realität um mich herum schien knirschend in Wanken zu geraten – wenn es sich denn überhaupt um die Realität handelte.“