Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Inmitten des Lebens sind wir vom Tod umgeben; du kannst auch Chaos dazu sagen. Leere nennt es der Protagonist in Haruki Murakamis kokkyō no minami, taiyō no nishi. Jetzt liegt der im Jahr 2000 erstmals auf Deutsch veröffentlichte Roman Gefährliche Geliebte in neuer Übersetzung unter dem Titel Südlich der Grenze, westlich der Sonne vor.
Ja richtig: Gefährliche Geliebte war jenes Buch, über dessen vermeintliche Vulgarität sich Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler dermaßen in die Haare bekamen, dass ihr Literarisches Quartett zerbrach. Wer nun dieses “literarische Fast-Food”, so Löffler damals, in der Hoffnung auf prickelnde Erotik überfliegt, dürfte enttäuscht werden. In Seelenruhe lässt Murakami den Ich-Erzähler über sein recht durschnittliches Leben berichten. Dessen Lakonie und Nüchternheit kennt eines nur in der Abwesenheit: Leidenschaft.
B-Novel
Hajime teilt sein materiell sorgenloses, im Grunde viel zu einfaches Leben mit manch anderen Protagonisten Murakamis und mit wahrscheinlich jedem seiner Leser. Hajime allerdings rutscht in dem schmalen Band, der nun zurecht nicht mehr die Geliebte im Titel führt, in das Schattenreich, in die Nacht, auf die andere, der Welt abgewandte Seite: Während er zunehmend in den Bann des Verdrängten und Vermissten gerät, verliert er die Kontrolle über sein Leben und den Kontakt zu seinem Umfeld.
Die schmucklose, aufs Einfachste reduzierte Sprache Murakamis erinnert nicht von ungefähr an Raymond Chandler. Wo bei Chandler das Sonnenlicht in den kalifornischen Palmen immer irgendwie unzuverlässig wirkt und die Tage voll Schwaden von Melancholie hängen, läuft Hajime mit zunehmendem Alter durch eine Parallelwelt. Auf wenig ist hier Verlass, und die Frage, was real, was Vorstellung ist und was hier überhaupt geschieht, lässt sich immer weniger beantworten.
In den dreizehn Kapiteln, die das abgründige Finale vor sich her schieben, als ginge es darum, die Rede vom Lustaufschub aufs Eindringlichste erfahrbar zu machen, legt Murakami zahlreiche Spuren einer Liebes- oder einer Kriminalhandlung, die sämtlichst ins Leere führen. Gewissheit und Antworten, so legt es der Roman nahe, gibt es nur innerhalb verabredeter Grenzen und Konventionen. Wer daran nicht mehr glaubt, ist verloren.
“Während du Tag für Tag immer wieder siehst, wie die Sonne im Osten aufgeht, über den Himmel wandert und im Westen versinkt, zerbricht irgendwann etwas in dir und stirbt. Du lässt deinen Pflug in der Erde und wendest dich, ohne etwas zu denken, gen Westen. Auf etwas zu, das westlich der Sonne liegt. Wie besessen wanderst du tagelang weiter, ohne zu essen oder zu trinken, bis du zusammenbrichst und stirbst.”
Das Leben hat eine Schatten-, eine B-Seite. Gern bleiben wir, nicht nur aus Gründen der Bequemlichkeit, auf der sicheren Seite. Die aber ist nur zu haben, weil es das Andere, die Infragestellung, gibt: Meine Realität ist eine Übereinkunft, eine Annahme, der jederzeit die Vernichtung droht.
Etwas, umgeben von Nichts
Shimamoto, die “gefährliche” Geliebte, ist natürlich eine ausgeklügelte späte Version des “ewig Weiblichen”, des drohenden Abgrundes, der Selbstbeherrschung und Selbstbestimmung zu verschlingen droht. Murakami untersucht in seiner Geschichte die Rolle des “Männlichen” in diesem von Stereotypen beherrschten Spiel.
“Mir kommt es vor, als hätte ich mein ganzes bisheriges Leben lang immer versucht, ein anderer Mensch zu werden. Ständig wollte ich einen neuen Ort finden, ein neues Leben führen, mir eine andere Persönlichkeit aneignen. (…) Ich dachte, ich könnte mein Ich aus seiner Gefangenschaft befreien, indem ich ein anderes Ich wurde. Ich war ernsthaft davon überzeugt, mir entkommen zu können, wenn ich mir nur genug Mühe gab. Doch am Ende gelang es mir nie.”
Am Ende kommen Figuren und Leser mit einem blauen Auge davon. Verunsichert und nur vielleicht gereinigt, kehren wir in unser Leben zurück. Und das ist doch eigentlich gar nicht so schlecht.
Südlich der Grenze… ist eine Liebesgeschichte, die vor allem eine Errungenschaft, eine Leistung feiert: das Wir als Bastion gegen das Nichts. Auch wenn das nicht alles ist: Es ist das Beste, was du kriegen kannst.