Das Reich Gottes

Nein, ich glaube nicht, dass Jesus auferstanden ist. Ich glaube nicht, dass ein Mensch von den Toten zurückgekehrt ist. Aber man kann es glauben, und dass ich selbst es geglaubt habe, weckt meine Neugier, fasziniert, verwirrt mich, wirft mich aus der Bahn... Ich schreibe dieses Buch, um mir nicht einzubilden, als Nichtmehrgläubiger mehr zu wissen als jene, die glauben, und als ich, da ich selbst noch glaubte. Ich schreibe dieses Buch, um mir selbst nicht zu sehr recht zu geben.

Eine Ermittlung zu den ursprünglichen Fragen des Christentums

Der hier Ich sagt, ist Emmanuel Carrère, französcher Schriftsteller und Drehbuchautor (unter anderem der sehenswerten Serie The Returned). Als "Ermittler", wie er selbst sagt, begibt er sich in seinem neuesten Buch auf die Suche nach dem Reich Gottes. Wie ist der christliche Glaube in die Welt gekommen? Durch welche - sozialen, politischen, philosophischen und auch ganz persönlichen - Bedingungen wurde das Christentum zu dem, wie es sich heute - repräsentiert durch die christliche Kirche - darstellt? Wie kommt man selbst dazu - wider besseres Wissen - zu glauben? Und was kommt, nachdem man diesen Glauben verloren hat?

Das Reich Gottes ist keine Hinführung zum christlichen Glauben, es ist keine theologische Streitschrift, am Ende gibt es keinen "Sieger". Vielmehr schreibt sich Carrère in einer wilden Mischung aus Autobiographie, historischem Roman ("Mein Problem mit dem historischen Roman ist: Ich komme mir dabei vor wie Asterix.") und freier Bibel-Übersetzung an den Quellen des christlichen Glaubens entlang. Zusammengehalten wird diese Textcollage von dem Ich-Erzähler Carrère, dessen Lebenskrise mit leidenschaftlicher Konversion zum Katholizismus den Ausgangspunkt bildet:

So unklar mir ist, wie dies aussehen könnte, strebe ich nach einer anderen Art, in der Welt und für andere und mich dazusein, als in dieser krankhaften Mischung aus Angst, Ignoranz, engstirniger Eigensucht und der Neigung zum Bösen, obwohl man das Gute will, die uns allen eigen ist, und die von der Kirche mit einem einzigen, übergeordneten Wort bezeichnet wird: Sünde.

Handwerk des Schreibens, Quellen des Glaubens

Auf das fast verzweifelt anmutende Glauben wollen folgt der Abfall vom Glauben. Als Schriftsteller nähert er sich nun den zentralen Figuren des Frühchristentums: auf Basis der wenigen vorhandenen Quellen und einer genauen Kenntnis der "Schriften" erfindet er die Biographien von Paulus und Lukas. Sie waren es, die das Bild der christlichen Kirche formten und Bilder von Jesus entwarfen. Der Agnostiker Carrère nun fragt:

Woher nimmt Lukas das, was er da schreibt?

Den Reisen des Paulus zwischen Griechenland, Jerusalem und Rom folgend, schildert er die Kontexte, in denen die ersten Schriften des Neuen Testaments entstanden. Er sucht nach Erfahrungen und Begegnungen, denkt über Fragen und Zweifel nach, diskutiert mögliche Quellen. Das ist kenntnisreich, konkret und ziemlich komplex - dank des persönlichen Zugriffs aber wird die Faszination greifbar, die den Arzt Lukas dazu führen wird, ein eigenes Evangelium zu schreiben: keine Geschichtsschreibung, sondern ein Roman, wie Carrère bewundernd ausführt.

Kleingeschriebene Lebensläufe vs. großgeschriebene Theologie

Die Kämpfe werden erahnbar, die zwischen den jüdischen Urchristen und den von Paulus missionierten Heidenchristen ausgefochten wurden - und das im Kontext des Auf und Ab des Römischen Reiches. Wie Lukas sich im Geiste von seinem Lehrer Paulus entfernt, als er Zeugnisse des "realen" Jesus in die Hände bekommt (was ihn zuletzt zu seinem eigenen Evangelium inspirieren wird), kann noch heute berühren und erschüttern:

Nie hat ein Mensch so gesprochen wie dieser Mensch.

Fortan stehen die "kleingeschriebenen Lebensläufe" des Lukas gegen die "großgeschriebene Theologie" des Paulus. Auch eine andere Geschichte der Kirche wird in den Wirren der Zeitläufte denkbar.

Das Geheimnis des Evangeliums

Am Ende kehrt Carrère in die Gegenwart zurück, wo er dem Christentum in einer ganz anderen, unverhofft sinnlichen Gestalt begegnet.

Der Mensch, der sich einem anderen für überlegen, unterlegen oder selbst für gleichwertig hält, begreift die Wirklichkeit nicht,

schreibt er. Und entdeckt, nach Jahren der Auseinandersetzung mit den heiligen Schriften, während eines Rituals der Fußwaschung ein Christentum jenseits des Horizonts der Schrift: wo einer in der Bedürftigkeit, Schwäche und Verletzlichkeit des anderen die eigene Bedürftigkeit, Schwäche und Verletzlichkeit entdeckt.

Das ist das große Geheimnis des Evangeliums. Anfangs will man ein guter Mensch sein, man will Bedürftigen Gutes tun, und Schritt für Schritt, und das kann Jahre dauern, entdeckt man, dass sie es sind, die uns Gutes tun, denn indem wir ihrer Bedürftigkeit, ihrer Schwäche und Angst nahe sund, entdecken wir auch unsere Bedürftigkeit, Schwäche und Ansgt, und es sind dieselben, es sind bei jedem dieselben ... und dann beginnt man, menschlicher zu werden.

Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Claudia Hamm. Matthes & Seitz Berlin 2016