Der Widersacher

Während Jean-Claude Romand am Samstagmorgen, den 9. Januar 1993, seine Frau und seine Kinder tötete, saß ich mit meinen in einer Versammlung der Schule unseres älteren Sohnes.

Der erste Satz enthält bereits alles. Das Monströse und das Alltägliche, vor allem aber die Beziehung zwischen dem Schriftsteller und seinem Objekt, die für Der Widersacher entscheidend ist.

Ein Mann lebt 18 Jahre lang mit einer komplett erfundenen Identität. Als Forscher bei der WHO sei er weltweit unterwegs, bestens vernetzt, ein Großverdiener – eigentlich aber verbringt er seine Tage auf einsamen Spaziergängen, im Auto oder allein in Hotelzimmern. Als die Lüge aufzufliegen droht, ermordet er Kinder, Frau und Eltern. Den eigenen Selbstmordversuch überlebt Jean-Claude Romand knapp.

Emmanuel Carrère rang nach eigener Aussage lange Zeit mit dieser Geschichte. Den Versuch einer Fiktionalisierung im Sinne von Truman Capotes Kaltblütig brach er irgendwann ab, weil er so dem wirklichen Geschehen nicht gerecht zu werden glaubte. Dann erst dieser Satz, der ihm einen neuen Weg zu schreiben wies.

Ich habe Romands Tun und meines nebeneinandergestellt, ohne zu meinen, das sei von großer Bedeutung, aber diese Parallelisierung wurde auf einmal zum Notenschlüssel. Plötzlich wurden wir Teil derselben Geschichte, wir gehörten derselben Welt und derselben Menschheit an und unsere Geschichten konnten einander spiegeln,

erzählt Carrère im Werkstattgespräch mit seiner deutschen Übersetzerin Claudia Hamm, das der 2018er Neuübersetzung des schon 1999 erschienen L'Adversaire beigegeben ist.

Wie die Diskussion z.B. auf Twitter zeigt, kann man sich an vielem in diesem Buch reiben. Etwa an der so unglaublichen wie abstoßenden Geschichte des Täters, in dem man einfach kein Opfer sehen möchte (der Autor versucht genau das). Oder an der Haltung und den Motiven des Autors, der das eigene Interesse und die Legitimität des eigenen Schreibens gleichsam mitthematisiert.

Bei der Gerichtsverhandlung sitzt Carrère direkt hinter der Mutter der ermordeten Ehefrau:

Ich hätte den Arm ausstrecken und ihre Schulter berühren können, doch zwischen ihr und mir klaffte ein Abgrund, der nicht nur im unerträglichen Ausmaß ihres Leids bestand. Nicht ihr und ihren Angehörigen hatte ich geschrieben, sondern dem, der ihr Leben zerstört hatte. Er war es, dem ich Rücksicht zu schulden glaubte, denn die Geschichte, die ich erzählen wollte, betrachtete ich als seine Geschichte. Sein Anwalt war es, mit dem ich zu Mittag aß. Ich stand auf der anderen Seite.

Die Fiktion sei an Plausibilität gebunden, die Wirklichkeit nicht, so Carrère. Romands Geschichte ist so unglaubwürdig, dass sie als fiktives Konstrukt nicht durchgegangen wäre. Das problematisiert Carrère im Nachvollzug der abstrus anmutenden Lebensgeschichte nicht; er weist höchstens auf Unklarheiten und Fragwürdigkeiten hin, ohne sich jedoch Urteile zu erlauben. Nein, Urteile interessieren ihn nicht – Carrère versucht zu verstehen. Schon bald nach den Morden schreibt er an den in Untersuchungshaft sitzenden Romand einen Brief und bittet ihn um Unterstützung bei dem Vorhaben, ein Buch über ihn zu schreiben:

Was Sie getan haben, ist für mich nicht die Tat eines gewöhnlichen Verbrechers oder eines Wahnsinnigen, sondern die eines Menschen, der durch Mächte zum Äußersten getrieben wurde, die stärker sind als er; wie diese gewaltigen Mächte wirken, würde ich gern zeigen.

Dieses vorbehaltlose Interesse macht das Buch teilweise schwer erträglich. Carrère folgt detailliert den Wendung im Lebenslauf seines – ja – Protagonisten. Aus dem Monster, als das Romand zu Beginn angesichts seiner Verbrechen erscheint, wird eine tragische Existenz, ein Individuum, das von Umständen und Zufällen getrieben auf einen Weg gerät, der absehbar nur in einer Katastrophe enden kann. Anstelle der zu erwartenden Beschäftigung mit den Opfern entwickelt der Autor Verständnis für den Täter:

Ich weiß, was es heißt, den ganzen Tag ohne Zeugen zu verbringen, stundenlang dazuliegen und an die Decke zu starren und Angst zu haben, nicht mehr zu existieren.

Mit dem Titel L'Adversaire spielt Carrère auf die Rolle des Satans in der Bibel an: auf den Widersacher. Wie ist Romand zum Opfer jener dämonischen Kräfte geworden, die mit dem Bösen schlechthin assoziiert werden? Und wieso sind diese Kräfte Thema des Schriftstellers Carrère? Welche Rolle spielt das eigene Interesse, die persönliche Faszination, was ist die Rolle des Autors in diesem Spiel?

Der Widersacher wurde geschrieben, nachdem Carrère eine kurze, intensive Phase als praktizierender Katholik hinter sich hatte, von der er 20 Jahre später in Das Reich Gottes erzählt. Während er dort der Möglichkeit des Glaubens und dem Geheimnis des Evangeliums nachgeht, seziert er im Widersacher die Situation des nackten Menschen, der ins Bodenlose fällt.

Eine Erlösung gibt es für Romand nicht. Im Gefängnis entdeckt auch er den christlichen Glauben für sich, doch Carrère bleibt zumindest skeptisch, ob dies nicht wieder nur eine äußere Hülle ist, in deren Inneren sich ein Abgrund birgt: die alte Lüge in neuem Gewand.

Nach ein paar Startschwierigkeiten scheint die Umprogrammierung zu funktionieren. Die Rolle des angesehenen Forschers wird durch die, nicht minder dankbare, des Schwerverbrechers auf dem Weg der mystischen Erlösung ersetzt.

Emmanuel Carrère: Der Widersacher. Mit einem Gespräch zwischen Emmanuel Carrère und Claudia Hamm. Matthes & Seitz 2018.

Im März 2019 wurde Der Widersacher im virtuellen Lesekreis 54reads auf Twitter gelesen.